Fakt und Fiktion – Über grausame Tierverstümmelungen und den Chupacabra

Wer sich einmal intensiver mit Aliens oder Fabelwesen auseinandergesetzt hat, wird sicherlich schon über „El Chupacabra“ gestolpert sein. Die sehr interessante US-Dokumentation „Dokupedia: Der Chupacabra – Das Fabelwesen Südamerikas“ aus dem Jahr 2005 hat dazu eine Reihe von Fakten hervorgebracht, die ich in keiner Diskussion bisher gesehen habe (wenngleich sich mein Interesse für solche Themen seit vielen Jahren teilweise gelegt hat). Die Doku stellt Fakten und Argumente sowohl von Skeptikern als auch Kritikern gegenüber.

Der Chupacabra (auch „El Vampira Moca“, „Goat-Sucker“ oder „Ziegenmelker“) wurde erstmals um das Jahr 1995 in Puerto Rico gesichtet und seitdem häuften sich Berichte über Angriffe und Verstümmelungen von Tieren sogar in anderen lateinamerikanischen Ländern. Beschrieben wurde der Chupacabra meist als reptilien-, känguru- oder fledermausartiges Wesen mit scharfen Fangzähnen, rot-glühenden Augen und Flügeln. Spekulationen über die Herkunft des Chupacabras reichen von abgestürzten Aliens bis zur Flucht eines Gen-Experimentes aus einem geheimen Forschungslabor. Nicht verwunderlich, so markiert Puerto Rico den südöstlichen Eckpunkt des sagenumwobenen Bermuda-Dreiecks.

In Puerto Rico gibt es seit Jahrzehnten Erzählungen über ein geheimnisvolles vampirartiges Wesen. Solche Geschichten sind vergleichbar mit denen von Vampiren, die insbesondere im 18. Jh. in Ost-Europa auftraten, als viele noch unbekannte Krankheiten existierten. Tuberkulose passt dabei mit den Symptomen „wie rote, geschwollene Augen (die schafft auch eine Empfindlichkeit gegenüber hellem Licht), blasse Haut, extrem niedrige Körpertemperatur, ein schwaches Herz und Blut zu husten, was auf die Idee, dass der einzige Weg für die Betroffenen zu ergänzen dieser Blutverlust wurde durch Blut saugen„. Für einige Kritiker war die Ausbreitung des Chupacabras auf andere lateinamerikanische Länder ein Indiz, dass es sich um ein kulturelles und nicht um ein paranormales Phänomen handelte. Auch die Ausweitung auf Miami, Florida widerspricht dieser These nicht, da dort etwa 70% aller Einwohner Hispanics oder Latinos sind und 2/3 aller Personen angeben, dass ihre Muttersprache spanisch ist. Gleiche Phänomene werden in unterschiedlichen Kulturräumen demnach auch mit unterschiedlichen Erklärungsansätzen begründet.

Die Berichte der Tierverstümmelungen durch einen Chupacabra klingen häufig gleich. Das Tier wurde getötet, aber nicht aufgefressen und Spuren von einem Kampf seien nicht vorzufinden. Gleichzeitig konnten allerdings chirurgisch-präzise Schnitte ebenso festgestellt werden, wie das Fehlen von Blut im Körper des Tieres. Bezeichnend ist, dass mit dem Aufkommen des Chupacabras, jeglicher augenscheinlich unerklärte Tiertod mit ihm in Verbindung gebracht wurde  und eine Hysterie unter den Einwohnern erzeugte. Anstatt bspw. nach einer seltenen Krankheit zu suchen, wurde alle Aufmerksamkeit auf das von allen Medien gehypete Wesen gerichtet.

Mysteriöse Tierverstümmelungen (Bilder) waren aber bereits in den USA seit den 1970er bekannt, wobei von „gehäuteten Köpfen“, „Entfernung von Augen, Ohren und Eutern“, Fehlen von Blut und Organen etc. berichtet wurde. Satanisten und Experimente von Außerirdischen mussten und müssen heute noch als Erklärung herhalten, wenngleich ersteres auch durch intensive FBI-Untersuchungen nie nachgewiesen werden konnte. Betroffene Farmer sahen allerdings Ähnlichkeiten ihrer Fälle zu den Angriffen des Chupacabras. Regierungsuntersuchungen gegenüber blieben sie allerdings skeptisch, da sie der Meinungen waren, die Regierung würde den Tod der Tiere als natürlich darstellten, um irgendetwas geheim zu halten. Ein „Experte“ für Tierverstümmelungen in der Doku glaubt sogar, dass die Erde rund um den Kadaver radioaktiv verseucht sei.

Die Dokumentation zeigt, wie selbst eine Psychologin und Lehrerin in Puerto Rico nach dem Tod einiger ihrer Haustiere, auf einem Feldweg eine Begegnung mit einem Chupacabra hatte, den sie vorerst für eine Eule hielt. Doch dann glaubte sie, dass das Wesen mit ihr kommunizieren wollte, allerdings verschwand es kurz darauf. Im Jahr 2000 wurde von einem Viehzüchter in Nicaragua berichtet, er hätte vier merkwürdige Wesen in seiner Tränke baden sehen, welche die Flucht ergriffen. Er bewachte fortan sein Anwesen und schoss mit seiner Flinte auf eines der Wesen, als es sich eines Abends dem Hof nährte. Das flüchtende Tier wurde von ihm Tage später tot aufgefunden, wenngleich der Kadaver bereits von Aasfressern „verunstaltet“ wurde. Zur Klärung dieses Falles, wurde der vermeintliche Chupacabra in die Universität von Léon gebracht.

Zu den Fakten:

Der zuständige Tierarzt des Landwirtschaftsministerium konnte nach etwa 300 Autopsien die beschriebene Blutleere nicht bestätigen und verweist auf Knochenbrüche, die durch Kämpfe entstanden sind. Doch von den Betroffenen und der Presse interessierte sich keiner mehr für seine Untersuchungsergebnisse, die natürliche Erklärungsansätze beinhalteten. Er vermutete Hunde oder Rhesusaffen, die die schlimmen Wunden an vielen Tieren herbeigeführt haben. Die Echtheit von Chupacabra-Pfotenabdrücke aus Florida und Chile konnten von einem Experten für Tierspuren (Biologe) nicht bestätigt werden, da u.a. Fingerabdrücke am Modell gefunden wurden.

Die zweitägige Autopsie des Chupacabra-Kadavers aus dem Jahr 2000 an der Universität in Nicaragua ergab, dass es sich um einen canis familiaris handele, also einem gewöhnlichen Haushund. Der Shitstorm ließ nicht lang auf sich warten. Schon während der Presseerklärung entgegneten ihnen die Bewohner „mit purer Feindseligkeit“ und buhten sie aus, weil niemand hören wollte, dass der angebliche Chupacabra-Kadaver gar kein Chupacabra war. Die Presse berichtete später sogar davon, dass der Farmer behauptete, dies sei nicht der Kadaver gewesen, den er dort abgeliefert hätte – nicht ganz unerklärlich, nach einer zweitägigen Obduktion des ganzen Tieres.

Nochmal zurück in die USA. Den tierischen Opfern fehlten Zunge, Augen und Geschlechtsorgane, aber es fand sich auch abgezogene Haut. Ein Sheriff aus Arkansas machte dazu ein sehr interessantes Experiment, um dem (kriminologischen) Rätsel der Tierverstümmelungen auf den Grund zu gehen. Dazu wurde ein Kadaver über mehrere Tage auf freiem Feld beim Verwesungsprozess beobachtet, ohne Aasfresser abzuschrecken. Die Ergebnisse brachten Licht ins Dunkle. Zu erst konnte ein Aufblähen des Kadavers durch die erhöhte Gasentwicklung durch Sonneneinstrahlung beobachtet werden, was zum Aufplatzen der Haut führte. Schmeißfliegen machten sich an den frisch hervorgequollenen Organen zu schaffen und legten ihre Eier zusätzlich in weiche und offene Stellen wie Augen, Ohren, Geschlechtsorgane etc. Die daraus schlüpfenden Maden trennten das verrottete Fleisch ab und zersetzen das Gewebe durch ihren Speichel. Nach 48 Stunden zeigten sich die gleichen Male wie bei den anderen gemeldeten Tieren und das Blut war bereits von den Insekten zersetzt worden. Diese Ergebnisse von 1979 bestätigte auch eine unabhängige Tierärztin als noch immer gültig und ergänzte, dass Bussarde häufig Augen und Hunde und Kojoten häufig die Genitalien entfernen.

Letztendlich ist es eine self-fullfilling prophecy. Als die Medien massiv über den Chupacabra berichteten bzw. über Aliens & Co. spekulierten, zählte nicht mehr, was wirklich die Ursache war, sondern das Nicht-Beweisbare. Schließlich ist die Nicht-Existenz eines Wesen schwerer zu beweisen als die Existenz eines Wesens. Indem die Menschen nun einen Sündenbock haben, müssen sie selbst keine Verantwortung mehr übernehmen oder könnten im schlimmsten Fall sogar bewusst z.B. Versicherungsbetrug begehen. Kritiker warnen davor, nicht nach den eigentlichen Ursachen wie Infektionen oder Erkrankungen zu suchen und in jedem toten Tier das Opfer eines Chupacabras zu sehen.

Nicht zuletzt ist das Mysterium um den Chupacabra zum einen eine gefundene Einnahmequelle durch Touristen (siehe Loch Ness Tourismus) bzw. unerschrockene Abenteurer und zum anderen eine gute Story für die Lokalpresse bzw. eine gute Plattform für Bewohner, die gern Aufmerksamkeit erhaschen wollen.

Die Dokumentation endet mit einer letzten Frage: „Warum sollte eine außerirdische Spezies, die intelligent und mächtig genug ist Millionen von Kilometern zu bewältigen, letztlich hier etwas so sinnloses tun, wie Rinder zu verstümmeln?“

Die Doku wurde von der Scene unter folgendem Release-Namen veröffentlicht: DOKUPEDIA.Der.Chupacabra.Das.Fabelwesen.Suedamerikas.GERMAN.DOKU.WS.dTV.XviD-D4U

Politische Sozialisation und Partizipation im Kontext einer Herabsetzung des Wahlalters auf 12 Jahre

Zur Vorbereitung eines Antrages für den Bundesparteitag 2011.2 der Piratenpartei, habe ich mich mit dem Thema des politischen Interesses bzw. der politischen Sozialisation und Partizipation bei Kindern und Jugendlichen auseinandergesetzt. Auf Grund des Umfangs stelle ich meine Ausarbeitungen dazu als PDF hier zu Verfügung und hoffe meine Antragsbegründung für die Herabsetzung auf 12 Jahre in einen weiteren Kontext zu bringen bzw. diesen nachvollziehbar(er) zu gestalten.

Download der PDF

Update: Antrag im LiquidFeeback und im Wiki abrufbar.

Jugendliche an die Wahlurnen!

Der nachfolgende Text wurde als Referat von Prof. Klaus Hurrelmann verfasst. Er lehrt an der Hertie-School of Governance in Berlin als Professor of Public Health and Education. Aufmerksam wurde ich auf das Thema Wahlalter für Unter-16-Jährige durch ein Interview mit ihm bei der Hessischen/Niedersächsischen Allgemeinen. Auf Nachfrage erhielt ich am 19.06. ein Okay, dieses Dokument auch weiterverbreiten zu dürfen. Eine stark gekürzte Version wurde von ihm bereits bei der Zeit 1996 veröffentlicht.

Als Vorbereitung zur Formulierung eines Antrages beim 2. Bundesparteitag der Piratenpartei 2011 soll dieser Text hier gepostet werden und später eine Referenz für einen Antragstext darstellen.

Anmerkung: Tippfehler, fehlerhafte Umbrüche u.ä. wurden korrigiert.

 

Klaus Hurrelmann:

Jugendliche an die Wahlurnen!

In der Altersspanne zwischen 12 und 14 Jahren entsteht die politische Urteilsfähigkeit

„Es ist unsere Zukunft, über die heute entschieden wird. Möglich, dass ich es zu drastisch sehe, aber das ist meine Meinung. Eigentlich ist es so, dass ich mich vor der Zukunft fürchte. Manchmal frage ich mich, ob wir das Jahr 2000 überhaupt noch erleben. Bei der Umweltverschmutzung und dem Hass der Völker gegeneinander ist das vielleicht eine berechtigte Frage. (…) Die Leute, die über uns zu bestimmen geruhen, die Erwachsenen, müssen bedenken, dass wir, die Kinder und Jugendlichen, in der Welt leben müssen, die sie uns hier überlassen. Ihnen ist das ja egal. Ihr Leben ist sowieso schon bald vorbei. Aber wir fangen gerade erst an zu leben. Es ist unsere Zukunft, mit der sie spielen. Können sie das vor uns verantworten?“

 Auszug aus einem Text der 14jährigen Schülerin Sylvia Rapp aus Weissach. Entnommen aus: Regina Rusch (Hg.) „So soll die Welt nicht werden. Kinder schreiben über ihre Zukunft“. Köln: Anrich 1993, Seite 54.

 Wie hat sich die Lebenssituation Jugendlicher verändert?

 Die Lebenssituation Jugendlicher hat sich in allen Industrieländern in den letzten 30 Jahren spürbar verändert:

  • Die Ablösung von den Eltern und der Herkunftsfamilie geschieht sehr früh, meist setzt sie schon im Alter von 12 und 13 Jahren ein. Die Beziehungen zu den Eltern bleiben in den meisten Fällen sehr gut, aber eine Distanzierung des eigenen Lebensstils von dem der Eltern ist nicht zu übersehen.
  •  Jugendliche haben heute eine sehr hohe Eigenverantwortung für ihre eigene Schullaufbahn. Die Ansprüche an einen hochwertigen Schulabschluss sind ständig gewachsen.
  •  Die Gleichaltrigengruppe gewinnt in dem Maße an Einfluss, wie die Familienablösung voranschreitet. Sie spielt vor allem für Entscheidungen bei Lebensstil, Kleidung, Mode und Freizeitverhalten eine große Rolle.
  •  Im Freizeit- und Konsumbereich bewegen sich Jugendliche mindestens genauso selbstsicher und souverän wie Erwachsene. Die Werbung hat das seit langem erkannt und setzt voll auf Kinder und Jugendliche als selbständige und gewissermaßen „mündige“ Käufer, die Entscheidungen nicht nur für sich selbst, sondern auch für ihre Eltern mit beeinflussen.
  •  Immer mehr Jugendliche arbeiten neben der Schule und stocken so ihr ohnehin schon gut ausgestattetes Konto weiter auf. Von den 13jährigen Jugendlichen haben über drei Viertel ein eigenes Bankkonto mit Karten-Verfügungsrecht. Jugendliche werden von den Kreditinstituten praktisch wie Erwachsene behandelt.
  •  In Glaubens- und Religionsfragen sind Jugendliche heute sehr stark auf sich selbst gestellt. Sie kommen in einer offenen und wertepluralistischen Gesellschaft nur dann mit ihrem Leben zurecht, wenn sie sich einen ethischen Orientierungskompass schaffen. Auch in diesem Bereich wird eine sehr hohe Selbständigkeit von ihnen verlangt.
  • Die Geschlechtsreife hat sich in den letzten Jahrzehnten immer weiter im Lebenslauf vorverlagert und liegt heute im Durchschnitt bei 11,5 Jahren für junge Frauen und 12,5 Jahren für junge Männer. Die meisten Jugendlichen haben im Alter von 14 oder 15 Jahren feste Partnerschaftsbeziehungen und oft auch regelmäßige Sexualkontakte.

Durch die Offenheit und Vielgestaltigkeit der Lebenssituation haben sich auch neuartige Bedingungen für die Persönlichkeitsentwicklung ergeben. Viele Jugendliche sind heute „kleine Erwachsene“: Sie müssen ihre eigenen sozialen Beziehungen und Bindungen organisieren, sie müssen ihre Schullaufbahn mit ihrer großen Bedeutung für die spätere Berufstätigkeit selbst in die Hand nehmen, sie müssen sich im Freizeit- und Medienbereich selbständig bewegen und auch wirtschaftlich selbständig handeln können.

Die rechtlichen Vorgaben für die veränderte Lebensphase Jugend haben sich in den letzten 30 Jahren nicht geändert. Das geltende Recht gestattet es, dass Jugendliche von der Werbung und von der Kreditwirtschaft wie selbständige Kunden angesprochen werden. Mit 14 Jahren erreichen Jugendliche ihre Religionsmündigkeit und können die Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft unabhängig von den Eltern bestimmen. Von diesem Alter an sind sie auch strafmündig im Rahmen der flexiblen Vorschriften des Jugendgerichtsgesetzes und beschränkt geschäftsfähig. Mit 18 Jahren erreichen Jugendliche dann die Volljährigkeit, gekoppelt mit dem aktiven und passiven Wahlrecht.

Es stellt sich die Frage, ob die veränderten Lebens- und Sozialisationsbedingungen bereits ausreichend durch diese rechtliche Lage berücksichtigt werden, vor allem auch, ob die Veränderungen in angemessener Form politisch widergespiegelt werden. Meiner Ansicht nach ist das nicht der Fall: Die Jugendlichen werden im politischen Raum nicht ernst genommen, es fehlen die angemessenen Formen der Partizipation und Mitbestimmung, die ihrer verhältnismäßig großen Selbständigkeit im sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Raum entsprechen.

Politische Orientierungen von Jugendlichen

Welche politischen Orientierungen haben Jugendliche? Sie stehen in der Erwachsenenbevölkerung sehr stark im Zentrum der Aufmerksamkeit. Ganz offensichtlich fasziniert und irritiert die Erwachsenen immer wieder erneut, wie sich die junge Generation ihren eigenen Lebensstil und ihre Lebensorientierung erarbeitet. Bei der Wertorientierung von Jugendlichen fällt auf, wie stark die Zielvorstellungen Selbstentfaltung, Selbständigkeit, Lebensgenuss, Mitbestimmung, Abenteuer und Kreativität im Vordergrund stehen. Die Mehrheit der Jugendlichen betont diese auf die Selbstentfaltung der eigenen Persönlichkeit abstellenden Werte sehr stark. Gefolgt werden diese Werte durch die Zielvorstellungen Freundschaft, Treue und Liebe. Entgegen vielen Vorurteilen und Projektionen der Erwachsenen legen die meisten Jugendlichen sehr großen Wert auf stabile Bindungen und Kontakte, auch zum anderen Geschlecht. An dritter Stelle der Wertpräferenzen von Jugendlichen folgen Beruf, Arbeitsplatz und Leistung. Die vielfach von Erwachsenen auf die Jugend projizierten Motive „Leistungsabwendung“ und „berufliches Desinteresse“ gehen völlig an der Realität vorbei.

Negativ besetzt sind bei den meisten Jugendlichen solche disziplinierende Werte wie Pünktlichkeit, gute Manieren, Fleiß, Pflicht, Disziplin, Ordnung und auch Landesverteidigung. Wie differenzierte Untersuchungen gezeigt haben, ist hiermit aber nicht eine Abwendung von der vorherrschenden Wertekultur unserer Gesellschaft, wie sie durch die Erwachsenen vertreten wird, verbunden. Vielmehr handelt es sich bei der Ablehnung dieser Werte um den Gegenpol zu den hochgeschätzten Zielvorstellungen der Selbstentfaltung und Selbständigkeit, die man durch die Pflichttugenden beeinträchtigt sieht.

Am Sonderforschungsbereich zur Kindheits- und Jugendforschung an der Universität Bielefeld führen wir seit zehn Jahren Untersuchungen über die politischen Einstellungen und Interessen von Jugendlichen durch. Diese Einstellungen sind für ein demokratisches Gemeinwesen von großer Bedeutung, denn bei der jungen Generation handelt es sich immerhin um die Heranwachsenden, die in wenigen Jahren die politische Meinungsführerschaft übernehmen werden. Deswegen ist es zunächst wichtig festzustellen, dass die überwältigende Mehrheit der Jugendlichen, nämlich 75 % und mehr, sich für Demokratie als die geeignetste Staatsform und auch für die heutige Verfassung der Bundesrepublik Deutschland ausspricht. Gleichwohl sind viele von ihnen mit der Realisierung demokratischer Ideale und Strukturen in Deutschland unzufrieden. Unzufrieden sind sie auch mit der Art und Weise, wie die Parteien und die Regierungen in unserem demokratischen Staat agieren.

Diese generelle Unzufriedenheit drückt sich vor allem in einem zurückhaltenden Wahlverhalten der Erstwählerinnen und Erstwähler aus. Die Wahlbeteiligung der 18- bis 25jährigen lag in den letzten zehn Jahren bei ungefähr 60 %, mit sinkender Tendenz. Von Erwachsenen ist diese vergleichsweise geringere Wahlbeteiligung immer wieder als politisches Desinteresse interpretiert worden. Tatsächlich drückt sich hierin eine untergründige Skepsis gegenüber dem System von Parteien und der Art und Weise der Gestaltung der Regierungspolitik in der Bundesrepublik und den Ländern aus. Oft wird allerdings übersehen, dass die geringe Wahlbeteiligung sich Zug um Zug auch in die über 25jährige Bevölkerung hinein fortsetzt. Von einem Wahltermin zum nächsten sinkt die Wahlbeteiligung auch der Erwachsenen und der älteren Bevölkerung immer weiter ab. Die Jungwähler sind so gesehen nur Vorreiter einer Entwicklung. Statt sie als demokratisch unzuverlässig zu brandmarken, wäre es viel wichtiger, genau zu überprüfen und zu untersuchen, warum sie den Wahlurnen fernbleiben.

Politische Interessen von Jugendlichen

Unsere Untersuchungen geben für die 12- bis 17jährigen, also den noch nicht Wahlberechtigten, hierzu einige Antworten. Ein Ergebnis ist dabei besonders auffällig: Etwa im Alter von 13 bis 14 Jahren hat sich dasjenige Niveau von politischem Interesse ergeben, das wir auch bei den 18- bis 25jährigen finden. Es erklären sich insgesamt etwa 35 % der Jugendlichen für politisch sehr interessiert, eine weitere Gruppe von 30 % für etwas interessiert und das letzte Drittel für politisch uninteressiert. Diese Werte liegen nicht weit entfernt von denen in der Erwachsenenbevölkerung; die Zahl der politisch Interessierten liegt hier etwas höher. Wiederum haben wir aber auch hier in den letzten Jahren den gleichen Trend: Ein Absinken des politischen Interesses auch in der Erwachsenenbevölkerung.

Interessant sind die thematischen und inhaltlichen Interessen von Jugendlichen. Hier ergeben sich spürbare Abweichungen von den inhaltlichen Interessen der Erwachsenenbevölkerung. An erster Stelle der politisch dringenden Themen stehen bei den 12- bis 17jährigen (und auch bei den 18- bis 25jährigen) die Themen Umweltschutz und Umweltzerstörung. Weiterhin beschäftigen sich die Jugendlichen sehr stark mit solchen emotional geladenen Themen wie Armut durch internationale Spannungen, Kriegsvermeidung, Benachteiligung von Ländern der Dritten Welt. Die Themen „Armut“ und „Arbeitslosigkeit“ folgten in der Rangfolge und haben in den letzten Jahren angesichts der schwierigen Wirtschaftslage weiter an Bedeutung gewonnen. Regionale und lokale Themen rangieren im Interessenspektrum der Jugendlichen auf den unteren Plätzen. Es sind also die globalen Themen, die Jugendliche ganz besonders beschäftigen. Wahrscheinlich ist die Interessenorientierung auch durch die Massenmedien mitbedingt. Wir können jedenfalls beobachten, dass schon 10- bis 12jährige über Massenmedien teilweise hervorragend über politische Zusammenhänge des Weltgeschehens informiert sind.

Auch die Parteipräferenzen der Jugendlichen im Alter von 12 bis 17 Jahren haben wir erfragt. 35 bis 40 % sind der Auffassung, keine der in Deutschland existierenden Parteien vertrete ihre Interessen und folglich werde man auch nicht zur Wahl gehen. Schon in diesem Alter zeichnet sich also die niedrige Wahlbeteiligung ab, die wir dann auch bei den 18- bis 25jährigen beobachten können. Von den einzelnen Parteien schneiden Bündnis 90/Die Grünen, SPD und PDS spürbar besser ab als in der Erwachsenenbevölkerung, die übrigen Parteien schlechter. Allerdings zeigt unsere Analyse sehr deutlich, dass diese Gewichtung mit den Themen zu tun hat, die von den Parteien vorgetragen werden. Eine fest verankerte „linke“ oder „grüne“ Orientierung lässt sich bei der jungen Generation nicht erkennen, allenfalls eine unkonventionelle Orientierung und Offenheit gegenüber Selbstbestimmungswerten, wie oben dargestellt.

Ein weiterer Punkt fällt auf: Ein großes Misstrauen gegenüber Politikerinnen und Politikern, mit den globalen Themen angemessen umzugehen, die Jugendliche für besonders wichtig halten. Die Lösungskompetenz der Partei- und Regierungspolitiker wird massiv in Frage gestellt. Die meisten Jugendlichen sind unsicher, ob die Politikerinnen und Politiker auch wirklich an einem Abbau der Umweltzerstörung und der wirtschaftlichen Krisen interessiert sind. Deshalb ihr Pessimismus gegenüber der zukünftigen Entwicklung, deshalb auch Gefühle von Unsicherheit und Angst.

Jugendliche machen sich Sorgen, dass durch die politischen „Apparate“ die dringlichen Zukunftsprobleme nicht angepackt werden. Sie haben zugleich den subjektiven Eindruck, wenig Einfluss auf die Entscheidungen der Politikerkartelle ausüben zu können. Hier entsteht ein gefährliches Gemisch von Hilflosigkeit und Entfremdung, verbunden mit Gefühlen der Ohnmacht und der Irritation. Weit verbreitet sind Ängste, dass soziale und wirtschaftliche Fehlentwicklungen nicht erkannt und politisch nicht gesteuert werden können. An diesem Punkt sehe ich eine reale Gefahr der Abwendung vom politischen System, der mangelnden Identifizierung mit den heutigen politischen Strukturen und Parteien, eben weil sich Jugendliche von der Beeinflussbarkeit politischer Prozesse ausgeschlossen fühlen.

Übrigens sind Mädchen in dieser Hinsicht noch empfindlicher als Jungen. Ihr politisches Sachinteresse ist niedriger als das der Jungen, ihr emotionales Interesse an politischen Themen allerdings ist sehr breit. Wir machen es uns zu einfach, wenn wir dieses gefühlsmäßige Zugehen auf politische Themen als „unpolitisch“ abwerten. Meiner Ansicht nach muss in der heutigen Lebenssituation, in der Jugendlichen so früh eine Selbstorganisation ihrer eigenen Lebensverhältnisse ermöglicht und zugleich abverlangt wird, auch die emotionale Dimension mitberücksichtigt werden. Insgesamt gilt für Jugendliche, dass für sie Politik nicht nur allein mit dem Kopf, sondern auch mit der Seele und wenn man es so sagen will mit dem „Bauch“ gemacht werden sollte. Politische Parteien wie etwa Bündnis 90/Die Grünen kommen diesem allgemeinen Verständnis von politischen Themen noch am ehesten nahe, daher ihre relativ große Resonanz.

Nicht überraschend ist nach alledem, wie gering der Anteil von Jugendlichen ist, der sich in Parteien und Vorfeldorganisationen der Parteien organisiert. Wir kommen auf einen Wert von etwa 2 bis 2,5 %. Dieser Wert liegt deutlich unter dem der Erwachsenenbevölkerung, in der wir von etwa 3,5 % ausgehen können. Aber: Auch in der Erwachsenenbevölkerung bröckelt die Mitgliedschaft rapide ab. Wiederum können wir erkennen, dass im politischen Verhalten und in den politischen Präferenzen von Jugendlichen, auch und gerade der 12- bis 17jährigen, gewissermaßen seismographische Qualitäten stecken. Die Art und Weise, wie die spontanen und agilen Jugendlichen auf politische Fragen reagieren, hat offenbar den Wert eines Frühindikatorensystems für das ganze politische System.

Es sind heute die Jugendlichen im Schulalter, die die politischen Stimmungsanzeiger und damit zugleich auch die Defizitaufzeiger geworden sind. Übrigens: Viel eher als in einer Partei organisieren sich diese Jugendlichen in Initiativen wie Amnesty International oder Greenpeace. Dieses nur vorübergehende, punktuelle Engagement kommt ihrer Mentalität näher. Sie haben eben grundsätzlich Sorge, sich von Apparaten und Institutionen vereinnahmen zu lassen. Das gilt auch für Gewerkschaften, Clubs und Sportvereine. Die Parteien erscheinen ihnen als Riesenorganisationen mit einem altmodischen Mitgliedschaftsbegriff. Hier tritt man einmal im Leben ein und bleibt lebenslang „gefangen“ diese Vorstellung ist für die meisten Jugendlichen ein Gräuel. Da sie außerdem abgeschreckt und teilweise angewidert sind von dem Funktionärsgehabe der politischen Sprecherinnen und Sprecher, ist die geringe Attraktivität der Parteien nicht überraschend.

Mehr Mitbestimmung und Mitgestaltung!

Welche Konsequenzen sind aus dem politischen Interessen- und Einstellungsprofil der jungen Generation zu ziehen? Grundsätzlich spricht meiner Ansicht nach alles dafür, Jugendliche ab 12 Jahren voll in die politische Diskussion und Gestaltung unseres Gemeinwesens einzubeziehen. In der Altersspanne zwischen 12 und 14 wird heute ein Lebensstadium erreicht, das eine weitgehend selbständige Lebensführung ermöglicht und zugleich verlangt. Deshalb sollten Jugendliche auch politisch partizipieren. Wir dürfen die 12- bis 17jährigen nicht wie bisher aus vielen gesellschaftlichen Zusammenhängen ausgrenzen, sondern wir müssen sie zur Mitgestaltung gewinnen. Wir können von ihnen nicht erwarten, dass sie sich von heute auf morgen an wichtigen Entscheidungen beteiligen. Hierzu müssen sie vorher spüren, dass ihre Partizipation erwünscht und erwartet ist. Es muss in Schulen, Familien und Ausbildungsplätzen so etwas wie eine „Partizipationskultur“ entstehen, mit der Selbstverständlichkeit, dass alle Beteiligten sich bei wesentlichen Fragen miteinander abstimmen und aufeinander hören. Das Wahlrecht ist nur ein Bestandteil einer solchen Partizipationskultur.

Das entscheidende Stichwort lautet: Demokratie leben. Das gilt für Familiendemokratie, Schuldemokratie, Vereinsdemokratie, Gemeindedemokratie und natürlich auch Parteidemokratie. Überall geht es um realistische und faire Mitbestimmung aller Menschen in diesen Institutionen, egal welcher Generation sie angehören. Und es geht darum, die Jugendlichen, deren Lebenssituation sich so deutlich in Richtung einer Verselbständigung gewandelt hat, voll mit einzubeziehen.

In mehreren Ländern der europäischen Union werden seit vielen Jahren Modelle für die stärkere Beteiligung von Kindern und Jugendlichen an politischen Entscheidungen erprobt. Bevor wir in Deutschland diese Modelle übernehmen, sollten wir genau prüfen, welche von ihnen sich bewährt haben. Meiner Ansicht nach sind es diejenigen, die Kindern und Jugendlichen direkte Beteiligungsmöglichkeiten einräumen. Diese Modelle machen ohne Wenn und Aber deutlich, dass Entscheidungsbefugnis an die junge Generation verlagert wird, also eine eindeutige Machtverschiebung stattfindet.

Grundsätzlich gilt: Nur dann, wenn mit Partizipation auch tatsächlich eine Gestaltungsfähigkeit mit der Chance der Veränderung gegebener Bedingungen verbunden ist, macht Beteiligung einen Sinn. Das Einräumen von Partizipationsrechten ist immer auch ein Stück Machtteilung und Machtabgabe, und zwar aus den Händen der Erwachsenen in die Hände der Jüngeren. Die direkten Beteiligungsformen machen dieses deutlich: Kindern und Jugendlichen wird mehr demokratische Macht als bisher zugestanden. Insofern sind Partizipations- (einschließlich Wahlrechts-)fragen immer auch politische Machtfragen. Historisch hat das nicht zuletzt die späte Einführung des Frauenwahlrechtes deutlich gezeigt.

Ziel einer demokratischen Gesellschaft muss es sein, Kinder und Jugendliche an allen wesentlichen Entscheidungen in ihrer Lebenswelt direkt zu beteiligen. Erleben sie in Familie, Kindergarten und Schule, aber auch in Nachbarschaft und Gemeinde, dass ihre Stimme zählt und ihre Meinung gehört wird, dann entwickelt sich so eine Beteiligungskultur, die für ein demokratisches Grundklima Voraussetzung ist. Zu dieser Kultur muss Beteiligungspraxis gehören die Möglichkeit nämlich, tatsächlich und real durch Mitbestimmung zu erfahren, wie sich die Lebensbedingungen gestalten lassen.

Die direkte Beteiligung von Kindern und Jugendlichen ist in verschiedenen Bereichen möglich, von denen ich einige beispielhaft ansprechen möchte:

  • Auf Gemeindeebene sind meiner Einschätzung nach von allen bisherigen Modellen diejenigen am erfolgreichsten, die eine direkte Anhörung von Kindern und Jugendlichen bei allen relevanten Planungen vorsehen. Das gilt für die Politikbereiche Verkehr, Kindergarten, Spielplatz, Freizeit und Schulen und viele andere mehr. Auch ist die Einrichtung von Kinderbeiräten und Jugendbeiräten sinnvoll, wobei Kinder gewissermaßen als Sachverständige bei der Beratung von Planungen für wesentliche Politikbereiche herangezogen werden. Schließlich halte ich auch die Einrichtung von kommunalen Kinderbeauftragten für hilfreich, weil hierdurch eine Verstärkerfunktion für die Meinungen und Einstellungen von Kindern und Jugendlichen in die Gemeindepolitik und Gemeindeverwaltung hinein erreicht werden kann.
  • Im Schulbereich wurde in den 70er und 80er Jahren ein recht gutes Instrumentarium der „Mitverwaltung“ etabliert, das seitdem aber nicht weiterentwickelt wurde. Es fehlt vor allem an der Beteiligung von Schülerinnen und Schülern an der Lehrplanung und der Gestaltung von Unterrichtsformen, auch an der Planung des Unterrichtsgebäudes und des Schulhofes. Im Zuge einer politisch jetzt endlich gewollten Verselbständigung der einzelnen Schule könnte die verstärkte Partizipation einen neuen Schub bekommen. Den Schulkonferenzen und möglicherweise den Schulbeiräten könnte eine Schlüsselrolle zukommen; an diesen Gremien sollten gewählte Vertreterinnen und Vertreter der Schülerschaft mit Sitz und Stimme teilnehmen. Schließlich wäre auch darüber nachzudenken, ob der Schülervertretung ein bildungspolitisches oder sogar allgemeinpolitisches Mandat zugestanden werden könnte, um auf diese Weise gezielte Einflussnahme auf gemeindepolitische und landespolitische Entscheidungen ausüben zu können.
  • Im Bereich der Medien herrscht heute kaum Partizipation von Kindern und Jugendlichen. Ich bin dafür, ihnen viel mehr Möglichkeiten einzuräumen, eigene Sendungen und eigene Publikationen zu produzieren. Selbstverständlich ohne jede Zensur, die im Schulbereich bei der „Jugendpresse“ immer noch üblich ist. Weiterhin sollten Kinder und Jugendliche Mitglied in den Rundfunkräten der großen Medienanstalten sein und in anderer Weise an Beiräten für diese Institutionen beteiligt werden. Schließlich sollten wir darüber nachdenken, ob wir für verschiedene Altersgruppen landesweit oder bundesweit Kindermedienräte und Jugendmedienräte einrichten. Diese Räte hätten die Aufgabe, öffentlich Bewertungen von Inhalten und Darstellungsformen bei Zeitungen, Illustrierten, Radiosendern und Fernsehsendern vorzunehmen.

Alle diese Überlegungen sprechen dafür, die direkten Formen der Beteiligung an Planungen und Entscheidungen zu stärken. Dabei muss der Versuch gemacht werden, jugendgerechte Formen der Gremiensitzungen zu finden. Auch muss beachtet werden, dass die Form der punktuellen Aktivität durch Anhörung, Umfragen, Werkstattgesprächen und Aktionen Kindern und Jugendlichen wahrscheinlich besser entgegenkommt als die kontinuierlichen, über viele Wochen und Monate ausgelegten Gremiensitzungen.

Auch die Einrichtung von sogenannten „Kinderparlamenten“ und „Jugendparlamenten“ ist zu erwägen. Diese Institutionen machen politisch aber nur Sinn, wenn sie mit echten Entscheidungskompetenzen ausgestattet sind. Hierzu fehlen meist die Möglichkeiten. Werden Kinder- und Jugendparlamente nur eingerichtet, um, wie es häufig heißt, „Demokratie einzuüben“, dann handelt es sich hier um eine ambivalente Institution, möglicherweise um eine „Spielwiese“ der Demokratie, die sogar kontraproduktiv für den Aufbau von demokratischen Erfahrungen sein könnte. Die Einrichtung von Kinder- und Jugendparlamenten ist mit größter Umsicht zu betreiben und nur dann zu befürworten, wenn tatsächliche Entscheidungen, zumindest Vetorechte, mit der Parlamentsarbeit verbunden sind. Ansonsten sollte lieber auf die erwähnte beiratsartige Arbeit zurückgegriffen werden, die einen direkten Einfluss auf Entscheidungen der Kommunen und möglicherweise auch der Länder gestattet.

Skepsis ist gegenüber dem sogenannten „Familienwahlrecht“ angebracht. Hier geht es um die Frage, ob die Kinder, die noch kein Wahlrecht haben also heute die unter 18jährigen ihre Stimme stellvertretend an ihre Eltern abgeben können. Unabhängig von verfassungsrechtlichen Problemen scheint mir dieses Modell demokratietheoretisch und politisch-psychologisch problematisch. Denn Kinder können sich hier nicht selbst artikulieren, sie müssen ihre Stimme delegieren. Das ist symbolisch nicht das, was für eine Demokratie konstitutiv ist: Durch diese Konstruktion ist keine Direktverantwortung möglich, Kinder und Jugendliche werden durch die stellvertretende Übernahme ihres Wahlrechtes nicht als vollwertige Bürgerinnen und Bürger wahrnehmbar. Das Modell ist familienpolitisch sicherlich interessant, weil es Eltern ein zusätzliches Gewicht bei politischen Wahlentscheidungen geben würde unter dem Gesichtspunkt einer Stärkung der Partizipationsrechte von Kindern und Jugendlichen aber handelt es sich hierbei nicht um ein zu bevorzugendes Modell.

Herabsetzung des Wahlalters

In die Mitbestimmungsdebatte gehört auch die Diskussion über die Herabsetzung des Wahlalters. Ich bin der Auffassung, dass eine Koppelung des Wahlalters an das Volljährigkeitsalter von 18 Jahren nicht überzeugend und nicht zwingend ist. Oft wird argumentiert, eine Bündelung aller Daten der rechtlichen Verselbständigung schaffe eine gewisse Klarheit und Orientierung im rechtlichen Bereich. Dagegen aber steht die Tatsache, dass wie oben dargestellt im Konsumbereich, der Geldwirtschaft, der Religions- und Wertorientierung und der Strafmündigkeit bereits heute wesentliche Teilrechte auf Selbstentfaltung und Selbstverantwortung an die unter 18jährigen gegeben werden teils rechtlich und verfassungsrechtlich gewollt, teils durch die sozialen und kulturellen Wandlungsprozesse faktisch entstanden.

Eine Herabsetzung des Wahlalters auf 12, 14 oder 16 Jahre wäre durchaus im Einklang mit anderen rechtlichen Vorgaben, die teilweise im Grundgesetz verankert sind. Eine solche Herabsetzung des Wahlalters würde auch der politischen Interessenlage Rechnung tragen, die sich wie unsere Untersuchungen zeigen nicht wesentlich von der der 18- bis 25jährigen unterscheidet.

Schließen wir die 12- bis 17jährigen wie bisher sowohl vom aktiven wie vom passiven Wahlrecht aus, dann sind die politischen Akteure in Parteien, Parlamenten und Regierungen nicht verpflichtet, diesen Teil der Bevölkerung zu repräsentieren. Mehr noch: Sie fühlen sich nach den heute geltenden Regeln der repräsentativen Demokratie faktisch dieser Bevölkerungsgruppe gegenüber in ihren Entscheidungen nicht verantwortlich. Die politisch informierten und interessierten Jugendlichen sind von einem entscheidenden Mechanismus der politischen Willensbildung ausgeschlossen, was sie in genau die Passivität weiter hineindrängt, unter der sie leiden. Auf der anderen Seite sind die Politikerinnen und Politiker nicht vom Wahlverhalten dieser Gruppe abhängig, was dazu führt, dass sie deren Themen kaum aufnehmen, sondern eher die Themen der wahlberechtigten älteren Bevölkerungsgruppen mit einem lebensperspektivisch bedingten kürzeren Zukunftshorizont.

Durch die Alleinrepräsentanz von Erwachsenen und Älteren bei Wahlen wird heute im politischen Sektor kein fairer Generationenvertrag geschlossen. Vielmehr werden nur diejenigen Interessen gefördert, die im relativ zeitnahen Zukunftshorizont der älteren Bevölkerung mit ihrer relativ geringen verbleibenden Lebenserwartung liegen. Das kann dazu führen, zukunftssichernde Themen zu vernachlässigen. Der frühere Vorsitzende der Freien Demokratischen Partei, Lambsdorff hat vor vielen Jahren auch im Blick auf die zunehmende Veralterung der Bevölkerung treffend festgestellt: „Wahlen werden künftig in den Altersheimen entschieden“.

Eine Senkung des Wahlalters würde diese Mechanismen zumindest teilweise durchbrechen. Die Trennung der Bevölkerung in einen wahlberechtigten und einen nicht-wahlberechtigten Teil muss in einem demokratischen Gemeinwesen sorgfältig begründet werden. Heute schließen wir (außer den 7 Millionen „Ausländern“ und einigen tausend „Entmündigten“) über 15 Millionen 0- bis 17jährige Menschen deutscher Staatsangehörigkeit vom Wahlrecht aus, alleine mit der Begründung, sie hätten nicht das angemessene Alter zur Praktizierung dieses Bürgerrechtes. Eine konsequente demokratische Verfassungsstruktur muss aber wohl von der Idee ausgehen, dass jeder Mensch eine Stimme hat. Abweichungen sind ausdrücklich zu rechtfertigen.

Deshalb muss geprüft werden, ob die Kriterien für die Festlegung eines „Sperralters“ von 18 Jahren unter den veränderten gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, kulturellen und entwicklungspsychologischen Bedingungen weiterhin haltbar sind. Meiner Ansicht nach ist das nicht der Fall. Denn Jugendliche sind heute selbständiger als früher. Sie müssen und können sich heute vermittelt über die Massenmedien mit allen wichtigen gesellschaftlichen und politischen Fragen auseinandersetzen. Ob wir diese Entwicklungen nun unter pädagogischem Gesichtspunkt begrüßen oder nicht Tatsache ist: Jugendliche sind heute in den meisten ihrer täglichen Lebensvollzügen wie Erwachsene aufgefordert, ihren eigenen Weg zu finden. Es gibt keinen stichhaltigen Grund, sie ausgerechnet von der politischen Beteiligung auszuschließen. Warum sollte ihnen die politische Partizipation, die sich besonders im Bürgerrecht auf Wahl ausdrückt, vorenthalten werden? Sie sind gefordert, in allen wichtigen Lebensbereichen schon früh ihren Mann oder ihre Frau zu stehen, sie können aber diese Herausforderung im politischen Bereich nicht annehmen, weil ihnen das hochwertigste Partizipationsrecht vorenthalten wird.

Jugendliche, auch schon Kinder, gehören verfassungsrechtlich gesehen von der Geburt an ebenso zum Staatsvolk im Sinne des Artikels 20 des Grundgesetzes wie Erwachsene und alte Menschen. Nach der bisherigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes kommt Kindern ab der Geburt der volle Gehalt der Grundrechte der Verfassung zu. Aus dieser Perspektive ist es nicht nachzuvollziehen, dass in Artikel 38 des Grundgesetzes das aktive und passive Wahlrecht von der Vollendung ausgerechnet des 18. Lebensjahres abhängig gemacht wird. Bekanntlich war Anfang der 70er Jahre diese Altersgrenze schon einmal geändert worden; sie lag vorher bei 21 Jahren. Nach Artikel 20 geht alle Staatsgewalt vom Volke aus und wird von diesem in Wahlen ausgeübt. Nach Artikel 38 aber wird genau der Teil des Staatsvolkes von der Partizipation ausgeschlossen, der ein besonderes Interesse an der Umsetzung langfristiger politischer Perspektiven hat.

Nach dem heute vorherrschenden Demokratieverständnis darf das Wahlrecht nicht an Charaktermerkmale der Person gebunden sein. Es handelt sich um ein Grundrecht, das nicht von der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit, der Herkunft, der religiösen Orientierung oder anderen personenbezogenen Merkmalen abhängig gemacht werden darf. Darf es von einer bestimmten persönlichen „Reife“ abhängig gemacht werden? Vielfach wird heute argumentiert, 12-, 14- oder 16jährige Jugendliche seien in ihrer persönlichen Entwicklung noch nicht so gefestigt wie Erwachsene. Das mag grundsätzlich stimmen. Aber: Reifekriterien werden an andere Altersgruppen der Bevölkerung nicht angelegt, wenn es um die Erteilung des Wahlrechtes geht. Eine Diskussion darüber, ob das Wahlrecht an die persönliche Reife gebunden werden kann, gibt es auch in Bezug auf die 70- bis 80jährige Bevölkerung nicht. Deswegen verbietet sich das pauschale Reifekriterium für die Festlegung eines Mindestwahlalters.

Sinnvollerweise können aber entwicklungspsychologische und persönlichkeitsdynamische Gesichtspunkte herangezogen werden. Für die Festlegung eines Mindestwahlalters eignet sich in dieser Perspektive das Kriterium der alterstypischen moralischen und politischen Urteilsfähigkeit. Die kognitive Entwicklungsforschung zeigt, dass in der Altersspanne zwischen 12 und 14 Jahren bei fast allen Jugendlichen ein intellektueller Entwicklungsschub stattfindet, der sie dazu befähigt, abstrakt, hypothetisch und logisch zu denken. Parallel hierzu steigt in dieser Altersspanne auch die Fähigkeit an, sozial, moralisch und politisch zu denken und entsprechende Urteile abzugeben. Wollen wir von einer „Reife“ der Urteilsfähigkeit nicht der gesamten Persönlichkeit sprechen, dann ist sie in diesem Alter gegeben. Regeln und Werte können jetzt unabhängig von eigenen Interessenlagen wahrgenommen und umgesetzt, die Intentionen der Handlungen anderer können erkannt und berücksichtigt, komplexe Zusammenhänge intellektuell verstanden werden.

Aus diesen Überlegungen heraus spricht meiner Ansicht nach vieles dafür, das aktive Wahlrecht auf ein Alter von bis zu 12 Jahren abzusenken. Auch die empirischen Befunde, die ich über die politische Interessenlage und die politischen Handlungspräferenzen von Jugendlichen zitiert habe, sprechen für einen solchen Schritt. Der Gesetzgeber würde mit einer solchen maßvollen Senkung des Wahlalters gesicherten Entwicklungserkenntnissen gerecht werden und auch der Tatsache Rechnung tragen, dass sich die Lebensbedingungen von Jugendlichen in diesem Altersabschnitt inzwischen spürbar verändert haben. Die Vorverlagerung von vielen Verselbständigungs- und Entscheidungsprozessen im Lebenslauf beeinflusst im übrigen ihrerseits die Entwicklungsdynamik und fördert die frühe Urteilsfähigkeit.

Das Wahlrecht für Jugendliche wäre ein deutlicher Schritt zu einem umfassenderen Demokratieverständnis. Das aktive Wahlrecht würde Jugendlichen mehr Rechte, aber auch mehr Verantwortung abverlangen. Für viele ist das eine Belastung, zumindest ein gewöhnungsbedürftiger Gedanke. Aus Umfragen geht hervor, dass die Jugendlichen in der Altersgruppe zwischen 12 und 17 Jahren selbst etwa nur zur Hälfte die Einräumung des Wahlrechtes befürworten. Jugendliche gehen mit sehr anspruchsvollen Maßstäben und Qualifikationsvorstellungen an den Wahlakt heran. Sie sind der Auffassung, es gehöre eine umfassende politische Information und eine genaue Kenntnis von Parteiprogrammen und politischen Zusammenhängen als Voraussetzung dazu. Hier sind die Jugendlichen erheblich anspruchsvoller als die ältere Bevölkerung, die teilweise ohne jede sorgfältige politische Vorabinformation wählen geht. Das muss keine schlechte Ausgangslage sein, sondern kann möglicherweise auch ein Impuls für eine besonders sensible politische Wahrnehmung des Wahlrechts sein.

Pluralität in der deutschen Ehekonzeption? – Fehlanzeige!

Historische Entwicklung

Eine weit verbreitete Vorstellung der Ehekonzeption ist die „Liebesehe“ [1]. Diese entstand etwa zum Ende des 19. Jh. als Gegenentwurf zu den oftmals arrangierten Konvenienzehen, im Hinblick einer „Wahrung von Besitz und Stand“ (Weichselbraun 2006:24). Eine romantisierende Vorstellung unter den geistigen Eliten, in der laut Schenk (1987, zit. nach Weichselbraun 2006) die Frauen „ihre männliche[n], die Männer ihre weiblichen Züge ausbilden“ sollten, ging dabei von einem einzigartigen Du aus, welches allein zu einem selbst passen würde. Die Vorstellung der „wahren Liebe“ fand politischen Einzug in die anfängliche Frauenbewegung, die sich gegen die Konvenienz- und Zwangsehe richtete (ebd.:24f.).

Bereits zuvor entwickelte sich im 18. Jh die bürgerliche Ehe. Zwar lassen sich auch hier schon gewisse Elemente der Liebesehe erkennen, allerdings überwogen materielle Gründe der Eheschließung bei weitem. Die Vernunft hatte sich der Sexualität und Sinnlichkeit unterzuordnen. Das patriarchalische Rollenverständnis manifestierte sich zusehends, indem es eine ökonomische Abhängigkeit der Frauen durch Haushaltung, Mutterschaft etc. schuf und gleichzeitig oftmals ein Altersgefälle (und somit auch ein Machtgefälle) zwischen dem Ehemann und der Ehefrau existierte. So waren Frauen bis ca. 1900 nach deutschem Recht nicht geschäftsfähig (ebd.:25).

Im 20. Jh. war das weit verbreitete Modell der Familie geprägt durch den Ernährer und die Verantwortliche für Heim und Kinder. In der breiten Gesellschaft wurde das bürgerliche Ehe- und Familienmodell akzeptiert und ausgeführt. Die Anbindung der Sexualität an die Ehe wurde durch Psychoanalyse und Sexualwissenschaften grundlegend hinterfragt. Während sich nach dem 1. Weltkrieg die Sexualmoral lockerte und Frauen ökonomisch unabhängiger waren, herrschten nach dem 2. Weltkrieg konservative Vorstellungen vor. Mit dem Aufkommen der Pille 1966 nahm der voreheliche Geschlechtsverkehr zu und unter StudenInnen und FeministInnen entstanden Diskurse über den Zusammenhang von Sexualität, Herrschaft und Kapitalismus. Populär wurde das Buch „Die offene Ehe“ von Nena & George O’Neill aus dem Jahre 1975, in dem gleichzeitig die Partnerschaft und individuelle Freiheiten betont werden (ebd.:25-27).

Mit dem Wirtschaftsboom der Nachkriegszeit und der zunehmenden Nachfrage nach Frauen als Arbeitskräfte, wurde es zusehends einfacher sich aus den ökonomischen Zwängen einer Ehe loszureißen. Scheidungen gingen nun deutlich mehr von Frauen aus. Es kam zu einer Verschiebung von einer ökonomisch zentrierten, zu einer individualbiographischen und oft gefühlsbetonten Ehekonzeption mit diversen Aushandlungs- und Abstimmungsprozessen (vgl. ebd.:28).

Die Wirklichkeit zeigt, dass das Ideal der modernen Liebesehe,  einer  lebenslangen,  monogamen,  auf  Liebe gegründeten, Verbindung ein Konstrukt ist – entstanden aus dem Versuch, romantische und bürgerliche Vorstellungen miteinander zu verschmelzen (ebd.:28).

Für Stengel (2008:1713) ist „Liebe die derzeit normativ unhinterfragte Voraussetzung für partnerschaftliche Beziehungen“, die „im Vergleich mit den rational-ökonomischen Bindemitteln der vorindustriellen Zeit (Hof, Grund, Mitgift usw.) […] jedenfalls ein Element der Partnerbindung  dar[stellt], das als flüchtig und tendenziell bedroht gelten kann“. Weiterhin sieht er in der romantischen Liebe ein Hauptargument für die zunehmende Instabilität binärer Beziehungen und bezeichnet sie als gleichzeitiges Binde- und Lösemittel von Paarbeziehungen (ebd.).

Situation heute

Nach dieser Ausführung kann also festgehalten werden, dass die „Liebesehe“ ein Konstrukt der Romantik war, die sich von der bürgerlichen „Vernunft“-Ehe abzugrenzen versuchte. Diese romantisierte Vorstellung hat sich bis heute verfestigt bzw. weiterhin angepasst. Durch die Geschichte hinweg allerdings, wurden Ehen vor allem von Frauen aus sozioökonomischen Gründen vollzogen. Die Religion spielt eine ebenso wichtige Rolle, in der die römisch-katholisch tradierte Vorstellung der sakramentalen Eheschließung die Einheit (Treue, Monogamie und Heterosexualität) und die Unauflöslichkeit ins Zentrum rückt.

In diesem Kontext erklärt sich womöglich ein Mangel an Pluralität innerhalb der praktizierten Ehekonzeptionen. Es scheint verwerflich zu sein, aus ökonomischen Gründen zu heiraten. Dies betrifft die Diskussionen über jüngere Frauen mit älteren Männern, aber auch Ehen zwischen Deutschen und Asylbewerben, die sich oftmals dem Vorwurf der Erschleichung der Aufenthaltsgenehmigung (Scheinehe) ausgesetzt sehen und von Behörden darauf peinlich genau geprüft werden.  Andererseits gibt es auch Beispiele wie das der zwei älteren Frauen, die sich zur gegenseitigen sozialen Absicherung heirateten, trotz bekundeter Heterosexualität.

Weiter könnte gefragt werden, ob es nun verwerflich ist aus steuerrechtlichen Gründen zu heiraten!? Ehen mit starken Einkommensunterschieden bringen Steuervorteile. Doch auch aus Armut wird geheiratet, wenngleich diese Tendenzen weniger in Deutschland zu finden sind. Wieder liegen die Gründe in sozioökonomischen Zwängen. Doch wenngleich es viele Beispiele dafür gibt, dass die eheliche Lebensgemeinschaft nicht nur aus Liebe geschlossen wird, bleibt es weiterhin das gesellschaftliche Idealbild.

§ 1353 BGB über die „Eheliche Lebensgemeinschaft“ bezeichnet die Ehe als Lebens- und Beistandsgemeinschaft. Doch die Einschränkungen sind vielfältig. Sie fangen da an, wo sich Menschen nicht aus sozioökonomischen Gründen verheiraten dürfen, um eine andere Staatsangehörigkeit zu erlangen. Gerade ökonomische Zwänge waren in der Geschichte grundlegend für lebenslange Ehen und die sozioökonomische Befreiung der Frauen führte zum Umbruch. Womöglich ist eine sog. „Scheinehe“ nicht für die Ewigkeit gedacht, wenngleich dies im Vorfeld bei beiden Ehepartner sicher nie 100%ig feststeht. Die Vorstellung der „Unauflöslichkeit“ in der christlichen Ehe, sollte kein Argument gegen eine Lebensgemeinschaft auf Zeit sein. Die Realität in Deutschland zeigt nämlich, dass der Anteil der Ehescheidungen an allen Ehelösungen von 15% (19660) auf 40% (2005) bzw. über 200.000 gestiegen ist (Statistisches Bundesamt 2007). Die eheliche Lebensgemeinschaft auf Zeit ist also mittlerweile eine weitverbreitete Praxis.

Während die Benelux-Staaten, Spanien, Portugal und Teile Skandinaviens bereits eine gleichgeschlechtliche Ehe eingeführt haben, fordern hierzulande nur zwei (im Bundestag vertretene) Parteien die Gleichstellung von gleichgeschlechtlicher Ehe und Heteroehe. Lediglich im Falle einer Geschlechtsumwandlung, die während einer bestehenden Ehe durchgeführt wird, darf eine gleichgeschlechtliche Ehe nach Transsexuellengesetz (TSG) existieren. Grund für die bisher fehlende Gleichstellung ist der bundesweite, mehrfache Widerstand der CDU/CSU und FDP gegen diverse Gesetzesvorschläge.

§ 1306 BGB schließt explizit bigame und polygame Ehen aus. Polyamorie bedeutet, dass mehrere Personen eine Liebesbeziehung miteinander eingehen, da sie eine „traditionelle“ Zweierbeziehung nicht als einzig und allein erstrebenswerte Form ansehen. Diese Form der Beziehung(en) kann sehr divers und unterschiedlich stark offen für weitere Beziehungen sein. Mal sind es sexuelle Vorstellungen, mal der Wunsch nach Zärtlichkeit und mal einfach nur Zuneigung. Polyamore Beziehungen sind in der Vorstellung konservativer Menschen womöglich die Gegenkonzepte zur heterosexuellen, binären „Liebesbeziehung“. Entweder ist solch eine polyamoröse Lebensgemeinschaft eine rein homosexuelle, oder aber eine bisexuelle, seltener aber eine heterosexuelle (z.B. eine Frau mit zwei Männern, welche miteinander aber keine Beziehung eingehen). In der Anthropologie wurde die Polygamie als die meistpraktizierte Form der Lebensgemeinschaften weltweit identifiziert. Auch hier sind sozioökonomische Interessen oftmals vordergründig, wenngleich auch starke hierarchische (und oftmals männliche dominierende) Strukturen innerhalb dieser Beziehungen bestehen. Da Frauen zumindest in Deutschland aber relativ gute Möglichkeiten haben für sich selbst zu versorgen, dürften auch polygame Beziehungen weniger aus monetärer Abhängigkeit entstehen. Lediglich die Piratenpartei Deutschland hat im Jahr 2010 die Forderung der Gleichstellung aller Partnerschaften unabhängig von Geschlecht und Anzahl in ihr Parteiprogramm aufgenommen. Wenngleich Polyamorie auf Grund der sexuellen Selbstbestimmung legal ist, ist eine staatliche Anerkennung einer polyamorösen Lebensgemeinschaft bisher nicht denkbar.

Fazit

Die Möglichkeiten der Lebensgemeinschaften sind vielfältig. Mal wird der Aspekt der Liebe stärker betont, mal die sozioökonomischen Vorteile. Doch über all dem schwingt die Moral, die mal stärker christlich, mal bürgerlich oder mal romantisch geprägt ist. Die Konzeption der Ehe ist auch ein Spiegel der Gesellschaft in der wir uns befinden. Aus Unwissen, Vorurteilen und Ängsten heraus werden Scheinehen angeprangert, Polygamie verurteilt und „Homoehen“ abgelehnt. Die Politik ist hier gefragt, denn gesellschaftlicher Wandel hin zu einer pluralistischen Gesellschaft, geht nur einher mit den rechtlichen Rahmenbedingungen und einem Abbau von Hürden und Verboten.

 

[1] Zur Frage, ob „Liebe“ ein geeigneter wissenschaftlicher Begriff ist, siehe Stengel (2008:1711-1713) und Corsten (1993:12).

 

Quellen:

Corsten, Michael (1993): Das Ich und die Liebe. Subjektivität, Intimität, Vergesellschaftung, Opladen.

Schenk, Herrad (1987): Freie Liebe, wilde Ehe. Über die allmähliche Auflösung der Ehe durch die Liebe. München.

Statistisches Bundesamt [Hrsg.] (2007): Ehescheidungen 2005. <http://www.bpb.de/files/3PNI7I.pdf, 21.07.2011>

Stengel, Stephan: Liebe und Partnerwahl in der Moderne. Zwischen Natur und Sozialität In: Karl-Siegbert Rehberg [Hrsg.] (2008): Die Natur der Gesellschaft. Verhandlungen des 33. Kongresses der Deutschen
Gesellschaft für Soziologie in Kassel 2006. Teilbd. 1 u. 2, Frankfurt am Main. <http://www.ssoar.info/ssoar/files/dgs/33-2006/1706.pdf, 20.07.2011>

Weichselbraun, Michael: Die Liebesehe – Von den Anfängen ihres Ideals zur Wirklichkeit in unserer Gegenwart. In: la:sf Lehranstalt für systemische Familientherapie [Hrsg.] (2006): Systemische Notizen. Heft 04. <http://www.la-sf.at/la-sf/upload/pdf/2006-04-03_Weichselbraun.pdf, 20.07.2011>