Die Positionen der Piratenpartei zu Rassismus, Rechtsextremismus und Ausländerfeindlichkeit

Ich möchte hier einmal die derzeitigen Positionen der Piratenpartei bzgl. Rassismus, Rechtsextremismus und Ausländerfeindlichkeit zusammenfassen. Diese Zusammenstellung habe ich zur Beantwortung einer Anfrage an die Piratenpartei in der SG Programm erarbeitet:

Die Piratenpartei Deutschland und ihre Untergliederungen setzt sich vielseitig gegen Rassismus, Rechtsextremismus, Faschismus etc. ein. Bereits § 1 unserer Bundessatzung legt einen Grundpfeiler für unser Wertesystem in dieser Frage fest:

„Die Piratenpartei Deutschland (PIRATEN) ist eine Partei im Sinne des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland und des Parteiengesetzes. Sie vereinigt Piraten ohne Unterschied der Staatsangehörigkeit, des Standes, der Herkunft, der ethnischen Zugehörigkeit, des Geschlechts, der sexuellen Orientierung und des Bekenntnisses, die beim Aufbau und Ausbau eines demokratischen Rechtsstaates und einer modernen freiheitlichen Gesellschaftsordnung geprägt vom Geiste sozialer Gerechtigkeit mitwirken wollen. Totalitäre, diktatorische und faschistische Bestrebungen jeder Art lehnt die Piratenpartei Deutschland entschieden ab.“

Auf dem Bundesparteitag 2011.2 in Offenbach am 03./04. Dezember 2011 legten wir einen Grundstein mit dem Punkt „Gemeinsam gegen Rassismus“ in unserem Grundsatzprogramm, in dem wir uns insbesondere auch gegen Alltagsrassismus positionieren. Wir unterstützen Initiativen, die das Verständnis zwischen verschiedenen Kulturen und Weltanschauungen verbessern, Vorurteile abbauen und das Miteinander fördern wollen. Einen weiteren Fokus legen wir auf die Förderung von Aussteigerprogrammen für Menschen, die sich aus solchen Kreisen lösen wollen.

Auf dem selben Parteitag wurde der sehr umfangreiche Antrag „Migration bereichert die Gesellschaften“ angenommen, der insbesondere die menschen- und grundrechtliche Stellung von Migrant_innen in Deutschland und Europa stärken soll. Dabei fordern wir z.B. die „Fristen bis zu einem dauerhaft abgesicherten Aufenthaltsrecht und zur Chance einer Einbürgerung […] deutlich zu senken, besondere Anstrengungen der Migranten zu Spracherwerb und beruflicher Integration […] zu unterstützen, ihr Fehlen nicht als Vorwand für Diskriminierung zu verwenden.“ Weiterhin sind „für die berufliche Integration […] die Regeln zur Anerkennung ausländischer Bildungs- und Ausbildungsabschlüsse zu vereinfachen“ und „internationale vertragliche Regelungen zur gegenseitigen Anerkennung von Bildungsabschlüssen […] vordringlich anzustreben.“

Neben diesen inhaltlichen Anträgen wurde auch das öffentliche Tragen von Parteisymbolen bei friedlichen Aktionen und Demonstrationen gegen totalitäre, faschistische oder diktatorische Bestrebungen mehrheitlich angenommen, sodass dafür keine besondere Erlaubnis eingeholt zu werden braucht.

Als Reaktion der aktuellen Diskussionen in und um die Piratenpartei hat der Bundesparteitag 2012.1 in Neumünster nahezu einstimmig erklärt „dass der Holocaust unbestreitbar Teil der Geschichte ist. Ihn unter dem Deckmantel der Meinungsfreiheit zu leugnen oder zu relativieren widerspricht den Grundsätzen unserer Partei.

Zur Frage eines Verbotes der NPD hat die Piratenpartei Deutschland bisher über keine Position auf einer Mitgliederversammlung abgestimmt. Auch wenn wir uns bereits klar gegen Rassismus und Diskriminierung in der breiten Gesellschaft positioniert haben, haben wir noch nicht entschieden, ob ein NPD Verbotsverfahren sinnvoll wäre oder nicht. Allerdings sollte das primäre Ziel sein, dass unsere Gesellschaft Gruppierungen wie die NPD selbst abschafft, indem sie diese nicht wählt.

Über aktuelle Aktionen, Demos und Veranstaltungen informieren z.B. einige Piraten, die sich zu der Gruppe „Piraten gegen Rechts“ vereint haben. Allerdings ist dabei zu beachten, dass dies kein offizielles Organ der Piratenpartei Deutschland ist und damit auch nicht zwingend die Haltung der Partei widerspiegeln muss.

„Vorsprung durch Technik. Über die Piratenpartei“

„Vorsprung durch Technik“, so hieß ein Vortrag letzte Woche vom Bahamas-Redakteur Sören Pünjer, welcher von der AG Antifa der MLU Halle-Wittenberg organisiert wurde. Ich möchte hier meine persönlichen Eindrücke des Vortrages darstellen und auf einige Thesen des Referenten eingehen.

Das Referat bzw. die Argumentation selbst war in sich nicht wirklich konsistent. Pünjer zitiert mal einen FOCUS-Artikel, mal einen Wahlprogrammpunkt aus dem Jahre 2010, der mittlerweile nicht mehr existiert oder eine Neu-Piratin ohne eine Quellenangabe ihrer Aussagen zu nennen. Danach wusste er meist ein Zitat von Theodor W. Adorno, Sigmund Freud etc. einzuwerfen, um dann nochmal über Aldous Huxleys „Schöne neue Welt“ oder George Orwells „1984“ zu philosophieren. Am Ende folgte immer eine generalisierte Aussage über die Piratenpartei, ohne sie wirklich belegen zu können. Lediglich seine willkürlich eingestreuten Quellen sollten seine Thesen untermauern. Symbolisch steht dabei seine Aussage über „das“ Video der Gruppe Anonymous zu ACTA. Ein Beweis, dass er die Dezentralität dieses losen Zusammenschlusses von Internetaktivist_innen nicht verstanden hat.

Seine Hauptkritik bestand darin, die Piraten als softwaregläubig darzustellen, indem wir unsere Politik durch unser Meinungsfindungstool „Liquid Feedback“ erarbeiten. Kein Wort dazu, dass es die Piraten sind, die dieses Tool nach ihren Wünschen gestalten, dass es legidlich zur Meinungsfindung dient und immer einen Parteitag brauch, um Themen in ein Programm aufzunehmen. Liquid Feedback ist nicht bindend, doch davon kein Wort des Referenten.

In diesem Kontext argumentiert Pünjer, die Kommunikation von Piraten würde nur noch über Facebook und Twitter ablaufen. Dabei zeigt sich, dass er auch diesmal sich kaum mit den Strukturen der Piraten beschäftigt zu haben scheint. Parteiintern nutzen wir Mailinglisten, Mumble (ähnlich wie Skype), die Piratenpads genau so wie Stammtische, Arbeitstreffen , Podiumsdiskussionen etc. Der Hinweis, sich nicht rein auf virtuelle Kommunikation zu verlassen (fehlende Emotionen etc.) ist wichtig, aber auch keine Neuigkeit für die Piraten.

Auch das Thema „Post-Gender“ möchte ich noch einmal ansprechen. Er wirft uns vor stark männlich geprägt zu sein, ohne seine eigene „Szene“ der Antideutschen selbst zu reflektieren. Die Piratenpartei ist nicht post-gender, sondern sie sieht es als Ideal an. Ein Zweigeschlechtersystem, in dem lediglich Männer und Frauen existieren bzw. eine rechtliche Stellung besitzen, lehnen wir ab. Die Verankerung dieser Vorstellung in den Köpfen können wir aber nicht von heute auf morgen abschaffen. So sind Piraten auch gegen eine Frauenquote, weil sie die Dichotomie Mann – Frau verstärkt und nicht durchbricht. Forderungen nach Quoten für Transsexuelle, Transgender, Intersexuelle oder andere Geschlechtsidentitäten existieren in der Politik nicht.

Pünjer scheint große Probleme mit der Basisdemokratie zu haben. Er verweist relativ unspezifisch auf die Geschichte, lässt aber genaueres außen vor. Mir kam sofort das Bild eines Stadtarchivs in Nienburg (Saale) auf, in dem ich Akten las, die eine über 80%-ige Wahlbeteiligung um 1930/34 herum aufwiesen. Ist das seine Angst vor der „Tyrannei der Massen„, wie es FDP-Generalsekretär Patrick Döring so schön formulierte? Ich gestehe, dass wir Piraten eine sehr optimistische Herangehensweise an die (Basis-)Demokratie haben, indem wir von einem positiven Menschenbild und einer gewissen Informiertheit der Bürger_innen ausgehen. Warum bspw. Minderheitenschutz und Basisdemokratie nicht miteinander vereinbar sein sollen, lassen sowohl Pünjer, als auch andere Kritiker_innen unbeantwortet. Gleichzeitig wehrt sich Pünjer sogar dagegen, dass sich Menschen nicht als Individuum, sondern als Gruppierungen politisch vertreten (lassen). Auf die Frage, wie denn seine Form der Demokratie aussehen würde, antwortete er kryptisch, dass sich Menschen nur als Individuum vertreten sollten und niemand mehr für Minderheiten und/oder Mehrheiten. Dabei bleibt unklar, ob Pünjer sich mit seiner Forderung noch innerhalb eines demokratischen Systems (z.B. durch Wahlen des Volkes) bewegt, oder ob er damit eher staatliche Strukturen ablehnt (z.B. Anarchismus). Nicht zuletzt stellt sich mir die Frage, inwiefern sich die Individuen einer Gesellschaft, in der die Identifikation zueinander (Wir – Andere) wohl schon immer existierte, überhaupt nur für ihre individuellen Bedürfnisse einsetzen würde. Eltern werden für die Rechte ihrer Kinder eintreten, Religionsgruppen für ihre Gläubigen etc.

Viele Fragen blieben mir unbeantwortet und zeugten davon, dass es dem Referenten nicht um eine konstruktive Diskussion ging. Als ein Pirat ihm das Angebot unterbreitete, in Dialog mit den Piraten zu treten, um seine Bedenken zu diskutieren, antwortete er mit „Das nehme ich zur Kenntnis“. Auf die Frage, ob er seine Thesen in Gesprächen mit Piraten einmal überprüft habe bzw. mit wievielen er sich schon unterhalten hat, gab er zu, dass seine Primärquellen verschiedene Onlinemedien der Presse und der Piraten war. An einem Dialog scheint Sören Pünjer als nur bedingt interessiert zu sein.

Crossposting auf der PiratenHalle-Seite

Der Preis für Barrierefreiheit am Beispiel Leichter Sprache

Nach einer Anfrage an das Netzwerk Leichte Sprache, wurde mir soeben der Preis für die Übersetzung des Grundsatzprogramms der Piratenpartei und des Wahlprogramms des LV Sachsen-Anhalt übermittelt. Es gibt sicher viel Stoff darüber zu diskutieren, aber ich hoffe, dass diese Debatte mit Vernunft geführt wird. Einen Überlick was Leichte Sprache ist und wieso wir sie brauchen, gibt es hier und wie sie funktioniert hier.

Aus Transparenzgründen: Das folgende Angebot stammt von der Holtz & Faust GbR in Münster.

Zusammenfassung (für diejenigen, die Bilder nicht „lesen“ können): Die Übersetzung des aktuellen Grundsatzprogramms der Piratenpartei, mit insgesamt 80.000 Zeichen (inkl. Leerzeichen), würde 2.900 EUR plus knapp 400 EUR für erläuternde Bilder kosten. Inkl. Mehrwertsteuer kommen wir auf einen Gesamtbetrag von 3.933,88 EUR. Darin enthalten sind mehrfache Prüfungen und Überarbeitungen durch Menschen mit Lernschwierigkeiten bzw. Mitarbeiter_innen der Westfalenfleiß GmbH, die insgesamt fast 900 Menschen mit Behinderung einen Wohn- und Arbeitsplatz ermöglicht. Zudem wurde der Hinweis gegeben, dass das Grundsatzprogramm nicht im Ganzen, sondern eher als Zusammenfassung erarbeitet bzw. gekürzt werden könnte.

Ich lade alle Piraten und Nicht-Piraten herzlich ein, sich an der Diskussion z.B. in der AG Barrierefreiheit zu beteiligen oder in einem öffentlichen Pad. Wir sollten ernsthaft darüber nachdenken, vor der Bundestagswahl das Geld zu investieren, eine Spendenaktion könnte dies meiner Meinung nach sicherlich ermöglichen und würde uns langfristig mehr Nutzen als Kosten bescheren. Nach kurzem googlen finden sich bereits zahlreiche Wahlprogramme einiger Parteien z.B. von den Grünen.

Mehr Infos auch bei Deutschlandradio Kultur.

Meine Position zur Herabsetzung des allgemeinen Wahlalters auf 12 Jahre als weiche Grenze

Ich wurde gebeten am 28./29.01.2012 in Nürnberg meinen Antrag vom letzten Bundesparteitag der Piraten bei der Bundesversammlung der Jungen Piraten vorzustellen. Sie suchen eine Position zu der Frage, ab wann generell das aktive Wahlrecht gelten sollte und werden voraussichtlich vier Positionen diskutieren:

  • Wahlrecht ab Geburt
  • Wahlrecht ab 12 Jahre
  • Wahlrecht ab 14 Jahre
  • Wahlrecht ab 16 Jahre

Eine umfassende Begründung findet ihr bei dem Antrag im Piratenwiki bzw. im LiquidFeedback inkl. Abstimmung. Die laufende Diskussion der JuPis findet ihr in ihrem Piratenpad. Da ich leider an der Bundesversammlung nicht teilnehmen kann, möchte ich hier nochmal meine Position näher erläutern und insbesondere auf die Contra-Argumente eingehen. Weitere Aspekte im Blog findet ihr hier und hier.

Ich sehe in der Herabsetzung des Wahlalters auf 12 Jahre einen Kompromissvorschlag, der weder eine stark bürgerrechtliche Legitimation betont, noch an einer juristischen Grenze wie der Strafmündigkeit (14 J.) geknüpft wird. Jegliche Altersgrenzziehung unterliegt einer gewissen Willkür und dies gilt nicht nur für ein Wahlalter, sondern auch für die Strafmündigkeit, die Schulpflicht, die sexuelle Selbstbestimmung etc. Die Knüpfung des Wahlalters an der Strafmündigkeit ist damit eine Form das Wahlalter an ein Reifekriterium zu binden, wobei die „Richtigkeit“ der Altersgrenze von 14 Jahren dabei selten in Frage gestellt wird. So liegt die Strafmündigkeit in England und Australien bei 10 Jahren, in der Tschechischen Republik, Finnland und Norwegen bei 15 Jahren und in Belgien oder Brasilien sogar bei 18 Jahren.

Kinder sind noch nicht reif genug

Zum einen ist Reife keine nachvollziehbare und objektive Kategorie und zum anderen ist fraglich, wer überhaupt darüber entscheiden darf, wer auf Grund welcher Eigenschaften oder Fähigkeiten wie „reif“ ist (vereinfacht wird dabei häufig eine Dichotomie von „reif“ und „unreif“ herangezogen, ohne jegliche Abstufung). Menschen kann nur in Ausnahmefällen ein Wahlrecht (per richterlichem Beschluss) entzogen werden. So müssen sich ältere Menschen bspw. keinem Reifekriterium unterziehen bzw. kann das Wahlrecht aufgrund zunehmender „Unreife“ so gut wie nicht aberkannt werden. Leider werden im Zuge des „Schutzes der Kindheit“ Kinder zunehmend in einer „Blase“ großgezogen, die sie von allem Bösen dieser Welt abschotten soll. Es ist fraglich, inwieweit Kindern Rechte abgesprochen werden sollten, die viel mehr eine Form von Verantwortung darstellt. Die Verantwortung über das Leben von Haustieren kriegen viele Kinder schließlich schon im Alter von 2 bis 3 Jahren von ihren Eltern anvertraut. Ein Mindestalter ist dabei nicht vorgegeben.

Kinder sind leichter manipulierbar

Ja und nein. Natürlich sind Kinder leichter beeinflussbar, denn ein größerer Teil ihrer (lebenslangen) Sozialisation steht noch aus. Aber bereits im Kindergarten- und Schulalter besteht das Umfeld der Kinder aus dem Elternhaus bzw. der Familie, der Einrichtung und den peer groups (z.B. Freundeskreis, Nachbarskinder), welche gegenseitig als Korrektiv aufeinander wirken. Antidemokratische Meinungen können bereits in diesem Alter insbesondere von der Schule aufgegriffen und diskutiert werden. Die Loslösung vom Elternhaus beginnt zumeist im Alter von 12 bis 13 Jahren und verstärkt den Einfluss von peer groups. Eine frühe politische Bildung in der Schule ist aber notwendig, um Kinder bereits einen Freiraum zu geben, um über ihre politischen und soziokulturellen Ansichten zu sprechen und sich mit anderen auszutauschen. Nicht zuletzt ist Manipulierbarkeit meiner Ansicht nach damit nicht per se schlecht, sondern ebenfalls als Korrektiv zu verstehen (Kinder hören sich wahrscheinlich erstmal jede Gegenmeinung an), sodass radikale Meinungen sicher weniger manifestiert sind, als bei vielen Erwachsenen. Weitere Anmerkungen zum Elterneinfluss findet ihr auf dem Blog von Manu.

Kinder brauchen/wollen noch nicht wählen

Wenn Kinder noch nicht wählen brauchen bleibt es trotzdem unverständlich, wieso sie es nicht dürfen, schließlich ist ein Recht keine Pflicht. Und geht es nicht eigentlich darum möglichst jedem Menschen ein Stimmrecht zu geben!? Dass Kinder eine Partei nicht unbedingt wegen eines Steuerkonzepts wählen werden sollte klar sein. Allerdings interessieren sich Kinder bereits in der ersten Klasse für Themen wie Umwelt, Krieg, Armut, Arbeitslosigkeit oder Migration. D.h. Kinder können bereits bewusst äußern, wie sie zu diesen Themen stehen, wenngleich sie dies noch sehr stark in ihrem unmittelbaren Umfeld beziehen. Warum dürfen Kinder nicht mitentscheiden, ob und wie ihre Schule finanziert wird, bzw. welche Dinge am Nötigsten sind? Schließlich ist Demokratie kein System, welches ausschließlich für Erwachsene gemacht ist (wenngleich die praktische Realität deutlich danach aussieht).

Kommunal ja, aber nicht auf Bundesebene

Manche behaupten, dass Bundespolitik wichtiger als Kommunalpolitik sei und Kinder deshalb vielleicht sogar kommunal entscheiden dürften, „aber doch bitte nicht nicht auf Bundesebene“. Hier offenbaren sich zwei Probleme. Zum einen ist „Wichtigkeit“ eine völlig subjektive Empfindung und dass Lokalpolitik unwichtig sei, würde wohl von vielen Bürger_innen vehement verneint werden. Zum anderen wird Kindern immer unterstellt, je höher die Ebene (lokal – regional – national – global), desto weniger verstehen sie und es wird behauptet Lokalpolitik könne ein Kind noch verstehen, aber Bundespolitik, oder gar EU-Politik nicht mehr. Dies ist allerdings ein Problem, was wohl generell auf die meisten Menschen zutrifft, die sich meist nicht einmal die Organe der EU kennen (womit ich mich einbeziehe). Aber es ist ein Irrglaube, dass Kinder so etwas wissen müssen, um überhaupt „objektiv“ wählen zu können. Politikverdrossenheit ist kein Phänomen von Kindern, sondern durchweg in jeder Altersklasse zu finden. Und auch über Interessen wie Umweltpolitik, Bildung, Krieg können Kindern schon befinden. Ab wann weiss ein Mensch genug um wählen zu dürfen und wieso darf ein 10jähriges Kind, was sich politisch sehr interessiert nicht wählen, aber ein 17jähriger Jugendlicher, obwohl es ihn noch nie interessiert hat?

Kinder wählen häufiger extremistische Parteien

Im Zusammenhang mit dem Argument, dass Kinder und Jugendliche einfacher manipulierbar seien, wird häufig behauptet, dass sie eher extremistische Parteien wählen würden. Das mag tendenziell zwar vor allem auf die NPD zutreffen, nicht aber in dem Maße, wie gern verlautet wird. Man möchte meinen, dass die Wahlergebnisse der DVU in Sachsen-Anhalt (12,9% im Jahr 1998), der Schill-Partei in Hamburg (19,4% im Jahr 2001) oder der NPD in Sachsen (9,2% im Jahr 2004) und in Mecklenburg-Vorpommern (7,3% im Jahr 2006) nicht von einer „reifen“ Wählerschaft produziert wurden. Nicht zuletzt stellen unsere Kinder und Jugendlichen auch nur ein Spiegelbild unserer Gesellschaft dar.

Ein relativ guter Indikator für das Wahlverhalten von Kindern und Jugendlichen ab der 7. Klasse sind die Juniorwahlen, die in verschiedenen Bundesländern dieses Jahr durchgeführt wurden. Schauen wir uns das Beispiel der Berliner Abgeordnetenhauswahl an, so ist feststellbar, dass etablierte Parteien weniger gewählt wurden und allein die Grünen höhere Stimmanteile besaßen, als bei der eigentlichen Wahl. Während die NPD 3,9% der Juniowahlstimmen bekam, waren es zur Abgeordnetenhauswahl 2,1%. Im Gegenzug dazu haben bspw. deutlich mehr Kinder und Jugendliche (4,9%) anteilig die Tierschutzpartei gewählt, welche im AGH auf lediglich 1,5% aller Stimmen kam. Auch die Piraten und die PARTEI konnte höhere Stimmanteile verbuchen. Dass Kinder generell eher extremistische Parteien wählen, kann hierbei nicht festgestellt werden, sondern eher, dass sie sehr viel diverser wählen und auch kleine Parteien in ihre Überlegungen mit einbeziehen, obwohl diese deutlich weniger mediale Präsenz genießen als die etablierten.

Ein Vergleich weiterer Wahlergebnisse der NPD in den Juniorwahlen (linke Zahl) mit denen der Landtagswahlen (rechte Zahl):

  • Hamburg: 3,9% vs. 0,9%
  • Sachsen-Anhalt: 11,4% vs. 4,6% (MLPD 0,8% vs. 0,2%)
  • Rheinland-Pfalz: 6,3% vs. 1,1% (Republikaner 1,2% vs. 0,8%)
  • Baden-Württemberg: 4,3% vs. 1,0% (Republikaner bei 0,9% vs. 1,1%)
  • Bremen: 3,5% vs. 1,6%
  • Mecklenburg-Vorpommern: 7,9% vs. 6,0%

Aus den Zahlen liest sich, dass es zwar eine Tendenz gibt, dass Jüngere vermehrt die NPD wählen, die aber mal stärker und mal schwächer vom Landtagswahlergebnis abweicht. Zu beachten ist die geringe Grundgesamtheit der Schüler_innen, bei der sich kleinere Abweichung und Trends stärker im Ergebnis niederschlagen. Doch auch bei scheinbar großen Unterschieden wie in Sachsen-Anhalt und Rheinland-Pfalz ist eine Gefahr für die Demokratie nicht abzusehen. Wären die Ergebnisse der Juniorwahlen in die Endergebnisse mit einbezogen, würden die Wahlergebnisse für die NPD in Sachsen-Anhalt von 4,61% auf 4,67% (1.003.714 statt 993.502 Wählende bzw. 46.964  statt 45.826 NPD-Wählende) und in Rheinland-Pfalz von 1,08% auf 1,13% (1.931.024 statt 1.908.734 Wählende bzw. 21.962 statt 20.586 Wählende) korrigiert werden müssen. Hier offenbart sich, dass weder eine Gefahr für die Demokratie, noch eine Gefahr für die Kinder und Jugendlichen selbst besteht, wenn ihnen ein Wahlrecht zugesprochen wird.

Abschlussbetrachtung

Eine Idee, die mir vor wenigen Tagen kam, ermöglicht einen Kompromiss zwischen dem Wahlrecht ab Geburt und dem Wahlrecht ab 12 Jahren. Der Antrag zum Wahlrecht ab 0 fordert die Eintragung in ein Wählerverzeichnis für alle Minderjährigen. In meinen Augen wäre dies ein Rückschritt, da bereits in vielen Kommunen und einigen Bundesländern frei ab 16 Jahren gewählt werden darf.

Mein Kompromissvorschlag wäre das allgemeine Wahlrecht auf 12 Jahre herabzusetzen und gleichzeitig dies als weiche Grenze zu definieren, sodass Unter-12-Jährige durch Eintragung in ein Wahlregister trotzdem nicht vom Wahlrecht ausgeschlossen werden.

Da ich Grenzen generell auch sehr kritisch sehe bzw. wie sie zumeist argumentativ begründet werden, möchte ich anregen darüber zu diskutieren. In meinen Augen vereint solch eine Forderung die Stärken beider Anträge und relativiert die einzelnen Schwächen (z.B.ein Ausschluss von Wahlen auf Grund des Alters).

Barrieren und Barrierefreiheit

Wenn man sich mal eine Barriere vorstellt, dann ist dies meist eine Art Schranke, Absperrung oder Abzäunung, die uns in den Sinn kommt. Unser Leben ist voller Barrieren, wenngleich uns viele nicht bewusst als solche vorkommen oder aber für uns persönlich keine Barriere bedeuten, aber für andere Menschen. Eine historisch gewachsene Barriere stellen administrative Grenzen dar, die dazu führen, dass Menschen sich nicht frei auf der Welt bewegen können. Während man mit deutscher Staatsbürgerschaft in fast alle Länder dieser Erde reisen kann, gibt es Länder, die z.B. gewissen Nationalitäten die Einreise am Flughafen ohne Visum verwährt (Beispiel Nepal) oder die Einreise für Staatenlose generell verweigert.

Relativ bekannt sind Barrieren im Zusammenhang mit Menschen mit Behinderung. So ist eine Treppe für einen Rollstuhlfahrer eine Barriere, die er kaum überwinden kann oder ein normales Buch eine Barriere für eine Blinde, weil es für sie nicht möglich ist es zu lesen. Man könnte argumentieren, dass Menschen behindert sind, weil es Barrieren gibt, die sie nicht überwinden können. Tatsächlich sind Menschen aber nur in wenigen Fällen „von Natur aus behindert“, sondern werden behindert. Die Treppe stellt eine Barriere dar, eine Rampe hingegen nicht. Architektonische Merkmale bestimmen hier über die „Behinderung“. Ähnliches gilt für die Blinde, die mit keiner Barriere zu kämpfen hätte, wenn es das gleiche Buch in Brailleschrift gäbe.

Es gibt viele Versuche diese und Behinderung in Gruppen einzuordnen:

Beispiel 1:

  • vertikal: Stufen, Schwellen, Bordsteine, Treppen …
  • horizontale: Schmale Türen, enge Gänge und Passagen …
  • räumlich: zu kleine Räume, zu wenig Bewegungsfreiheit …
  • anthropometrisch: Griffe zu hoch, zu niedrig, Mobiliar und Einrichtung auf der falschen Höhe
  • ergonometrisch: fehlende Handläufe, keine Stützgriffe …
  • sensorisch: Schlecht lesbare Informationen, ungenügend Licht, wenig Kontraste …
  • Verständnis: Analphabetismus, geistige Behinderung, fremdsprachig …

(nach Dienststelle für Personen mit Behinderung)

Beispiel 2:

  • körperliche Behinderung
  • Sinnesbehinderung (Blindheit, Gehörlosigkeit, Schwerhörigkeit, Taubblindheit)
  • Sprachbehinderung
  • psychische (seelische) Behinderung
  • Lernbehinderung
  • geistige Behinderung

(nach Wikipedia)

Beispiel 3:

  • geräteabhängig: Ein-/Ausgabegerät, Betriebssystem, Browser, Auflösung …
  • visuell: Alter, Sonneneinstrahlung, Müdigkeit …
  • akustisch: Alter, Taubheit, Geräuschkulisse …
  • motorisch: Krankheit, Bettlägerigkeit, Platzmangel …
  • sprachlich: Lernbehinderung, Fremdsprache, Internetunerfahren …
  • kognitiv: eingeschränkte Aufnahme und Verarbeitung von Informationen …

(nach die-barrierefreie-website.de)

Doch so einfach ist es nicht immer. Während es für viele Behinderungen diverse Vorschläge gibt, um Barrieren abzubauen, so sind gerade mehrfach- und schwerst(mehrfach)behinderte Menschen oder jene mit starken psychischen „Störungen“ häufig auf Hilfe angewiesen. Wo jeder Schritt oder Handschlag im Alltag bereits eine Barriere darstellt, ist ein breites Hilfeangebot notwendig. Für so manche Person wird bspw. die persönliche Assistenz eine selbstbestimmten Form eigener Arbeitgeber zu sein, wenngleich sie noch mit diversen Problemen zu kämpfen hat. Dass einige Menschen dieses Angebot nicht nutzen werden oder können, ist wohl aber sicher.

So umfangreich das Thema ist und so schwierig insbesondere Mehrfachbarrieren sein können, so sehr ist es vonnöten Ideen zu sammeln, um diese Probleme anzugehen. Die Barrierefreiheit in der Theorie ist ein Idealismus, der in der Praxis eher durch das Streben nach Barrierearmut gerecht werden wird. Aber genau dort stellt sich die Frage, wie insbesondere im öffentlichen Raum (multiple) Barrieren abgebaut oder ersetzt werden können.

Falls ihr Ideen, Kommentare oder Kritik habt könnt ihr sie hier oder gleich euch bei der AG Barrierefreiheit der Piraten loswerden (dafür müsst ihr nicht Mitglied sein!).

Politische Sozialisation und Partizipation im Kontext einer Herabsetzung des Wahlalters auf 12 Jahre

Zur Vorbereitung eines Antrages für den Bundesparteitag 2011.2 der Piratenpartei, habe ich mich mit dem Thema des politischen Interesses bzw. der politischen Sozialisation und Partizipation bei Kindern und Jugendlichen auseinandergesetzt. Auf Grund des Umfangs stelle ich meine Ausarbeitungen dazu als PDF hier zu Verfügung und hoffe meine Antragsbegründung für die Herabsetzung auf 12 Jahre in einen weiteren Kontext zu bringen bzw. diesen nachvollziehbar(er) zu gestalten.

Download der PDF

Update: Antrag im LiquidFeeback und im Wiki abrufbar.

Pluralität in der deutschen Ehekonzeption? – Fehlanzeige!

Historische Entwicklung

Eine weit verbreitete Vorstellung der Ehekonzeption ist die „Liebesehe“ [1]. Diese entstand etwa zum Ende des 19. Jh. als Gegenentwurf zu den oftmals arrangierten Konvenienzehen, im Hinblick einer „Wahrung von Besitz und Stand“ (Weichselbraun 2006:24). Eine romantisierende Vorstellung unter den geistigen Eliten, in der laut Schenk (1987, zit. nach Weichselbraun 2006) die Frauen „ihre männliche[n], die Männer ihre weiblichen Züge ausbilden“ sollten, ging dabei von einem einzigartigen Du aus, welches allein zu einem selbst passen würde. Die Vorstellung der „wahren Liebe“ fand politischen Einzug in die anfängliche Frauenbewegung, die sich gegen die Konvenienz- und Zwangsehe richtete (ebd.:24f.).

Bereits zuvor entwickelte sich im 18. Jh die bürgerliche Ehe. Zwar lassen sich auch hier schon gewisse Elemente der Liebesehe erkennen, allerdings überwogen materielle Gründe der Eheschließung bei weitem. Die Vernunft hatte sich der Sexualität und Sinnlichkeit unterzuordnen. Das patriarchalische Rollenverständnis manifestierte sich zusehends, indem es eine ökonomische Abhängigkeit der Frauen durch Haushaltung, Mutterschaft etc. schuf und gleichzeitig oftmals ein Altersgefälle (und somit auch ein Machtgefälle) zwischen dem Ehemann und der Ehefrau existierte. So waren Frauen bis ca. 1900 nach deutschem Recht nicht geschäftsfähig (ebd.:25).

Im 20. Jh. war das weit verbreitete Modell der Familie geprägt durch den Ernährer und die Verantwortliche für Heim und Kinder. In der breiten Gesellschaft wurde das bürgerliche Ehe- und Familienmodell akzeptiert und ausgeführt. Die Anbindung der Sexualität an die Ehe wurde durch Psychoanalyse und Sexualwissenschaften grundlegend hinterfragt. Während sich nach dem 1. Weltkrieg die Sexualmoral lockerte und Frauen ökonomisch unabhängiger waren, herrschten nach dem 2. Weltkrieg konservative Vorstellungen vor. Mit dem Aufkommen der Pille 1966 nahm der voreheliche Geschlechtsverkehr zu und unter StudenInnen und FeministInnen entstanden Diskurse über den Zusammenhang von Sexualität, Herrschaft und Kapitalismus. Populär wurde das Buch „Die offene Ehe“ von Nena & George O’Neill aus dem Jahre 1975, in dem gleichzeitig die Partnerschaft und individuelle Freiheiten betont werden (ebd.:25-27).

Mit dem Wirtschaftsboom der Nachkriegszeit und der zunehmenden Nachfrage nach Frauen als Arbeitskräfte, wurde es zusehends einfacher sich aus den ökonomischen Zwängen einer Ehe loszureißen. Scheidungen gingen nun deutlich mehr von Frauen aus. Es kam zu einer Verschiebung von einer ökonomisch zentrierten, zu einer individualbiographischen und oft gefühlsbetonten Ehekonzeption mit diversen Aushandlungs- und Abstimmungsprozessen (vgl. ebd.:28).

Die Wirklichkeit zeigt, dass das Ideal der modernen Liebesehe,  einer  lebenslangen,  monogamen,  auf  Liebe gegründeten, Verbindung ein Konstrukt ist – entstanden aus dem Versuch, romantische und bürgerliche Vorstellungen miteinander zu verschmelzen (ebd.:28).

Für Stengel (2008:1713) ist „Liebe die derzeit normativ unhinterfragte Voraussetzung für partnerschaftliche Beziehungen“, die „im Vergleich mit den rational-ökonomischen Bindemitteln der vorindustriellen Zeit (Hof, Grund, Mitgift usw.) […] jedenfalls ein Element der Partnerbindung  dar[stellt], das als flüchtig und tendenziell bedroht gelten kann“. Weiterhin sieht er in der romantischen Liebe ein Hauptargument für die zunehmende Instabilität binärer Beziehungen und bezeichnet sie als gleichzeitiges Binde- und Lösemittel von Paarbeziehungen (ebd.).

Situation heute

Nach dieser Ausführung kann also festgehalten werden, dass die „Liebesehe“ ein Konstrukt der Romantik war, die sich von der bürgerlichen „Vernunft“-Ehe abzugrenzen versuchte. Diese romantisierte Vorstellung hat sich bis heute verfestigt bzw. weiterhin angepasst. Durch die Geschichte hinweg allerdings, wurden Ehen vor allem von Frauen aus sozioökonomischen Gründen vollzogen. Die Religion spielt eine ebenso wichtige Rolle, in der die römisch-katholisch tradierte Vorstellung der sakramentalen Eheschließung die Einheit (Treue, Monogamie und Heterosexualität) und die Unauflöslichkeit ins Zentrum rückt.

In diesem Kontext erklärt sich womöglich ein Mangel an Pluralität innerhalb der praktizierten Ehekonzeptionen. Es scheint verwerflich zu sein, aus ökonomischen Gründen zu heiraten. Dies betrifft die Diskussionen über jüngere Frauen mit älteren Männern, aber auch Ehen zwischen Deutschen und Asylbewerben, die sich oftmals dem Vorwurf der Erschleichung der Aufenthaltsgenehmigung (Scheinehe) ausgesetzt sehen und von Behörden darauf peinlich genau geprüft werden.  Andererseits gibt es auch Beispiele wie das der zwei älteren Frauen, die sich zur gegenseitigen sozialen Absicherung heirateten, trotz bekundeter Heterosexualität.

Weiter könnte gefragt werden, ob es nun verwerflich ist aus steuerrechtlichen Gründen zu heiraten!? Ehen mit starken Einkommensunterschieden bringen Steuervorteile. Doch auch aus Armut wird geheiratet, wenngleich diese Tendenzen weniger in Deutschland zu finden sind. Wieder liegen die Gründe in sozioökonomischen Zwängen. Doch wenngleich es viele Beispiele dafür gibt, dass die eheliche Lebensgemeinschaft nicht nur aus Liebe geschlossen wird, bleibt es weiterhin das gesellschaftliche Idealbild.

§ 1353 BGB über die „Eheliche Lebensgemeinschaft“ bezeichnet die Ehe als Lebens- und Beistandsgemeinschaft. Doch die Einschränkungen sind vielfältig. Sie fangen da an, wo sich Menschen nicht aus sozioökonomischen Gründen verheiraten dürfen, um eine andere Staatsangehörigkeit zu erlangen. Gerade ökonomische Zwänge waren in der Geschichte grundlegend für lebenslange Ehen und die sozioökonomische Befreiung der Frauen führte zum Umbruch. Womöglich ist eine sog. „Scheinehe“ nicht für die Ewigkeit gedacht, wenngleich dies im Vorfeld bei beiden Ehepartner sicher nie 100%ig feststeht. Die Vorstellung der „Unauflöslichkeit“ in der christlichen Ehe, sollte kein Argument gegen eine Lebensgemeinschaft auf Zeit sein. Die Realität in Deutschland zeigt nämlich, dass der Anteil der Ehescheidungen an allen Ehelösungen von 15% (19660) auf 40% (2005) bzw. über 200.000 gestiegen ist (Statistisches Bundesamt 2007). Die eheliche Lebensgemeinschaft auf Zeit ist also mittlerweile eine weitverbreitete Praxis.

Während die Benelux-Staaten, Spanien, Portugal und Teile Skandinaviens bereits eine gleichgeschlechtliche Ehe eingeführt haben, fordern hierzulande nur zwei (im Bundestag vertretene) Parteien die Gleichstellung von gleichgeschlechtlicher Ehe und Heteroehe. Lediglich im Falle einer Geschlechtsumwandlung, die während einer bestehenden Ehe durchgeführt wird, darf eine gleichgeschlechtliche Ehe nach Transsexuellengesetz (TSG) existieren. Grund für die bisher fehlende Gleichstellung ist der bundesweite, mehrfache Widerstand der CDU/CSU und FDP gegen diverse Gesetzesvorschläge.

§ 1306 BGB schließt explizit bigame und polygame Ehen aus. Polyamorie bedeutet, dass mehrere Personen eine Liebesbeziehung miteinander eingehen, da sie eine „traditionelle“ Zweierbeziehung nicht als einzig und allein erstrebenswerte Form ansehen. Diese Form der Beziehung(en) kann sehr divers und unterschiedlich stark offen für weitere Beziehungen sein. Mal sind es sexuelle Vorstellungen, mal der Wunsch nach Zärtlichkeit und mal einfach nur Zuneigung. Polyamore Beziehungen sind in der Vorstellung konservativer Menschen womöglich die Gegenkonzepte zur heterosexuellen, binären „Liebesbeziehung“. Entweder ist solch eine polyamoröse Lebensgemeinschaft eine rein homosexuelle, oder aber eine bisexuelle, seltener aber eine heterosexuelle (z.B. eine Frau mit zwei Männern, welche miteinander aber keine Beziehung eingehen). In der Anthropologie wurde die Polygamie als die meistpraktizierte Form der Lebensgemeinschaften weltweit identifiziert. Auch hier sind sozioökonomische Interessen oftmals vordergründig, wenngleich auch starke hierarchische (und oftmals männliche dominierende) Strukturen innerhalb dieser Beziehungen bestehen. Da Frauen zumindest in Deutschland aber relativ gute Möglichkeiten haben für sich selbst zu versorgen, dürften auch polygame Beziehungen weniger aus monetärer Abhängigkeit entstehen. Lediglich die Piratenpartei Deutschland hat im Jahr 2010 die Forderung der Gleichstellung aller Partnerschaften unabhängig von Geschlecht und Anzahl in ihr Parteiprogramm aufgenommen. Wenngleich Polyamorie auf Grund der sexuellen Selbstbestimmung legal ist, ist eine staatliche Anerkennung einer polyamorösen Lebensgemeinschaft bisher nicht denkbar.

Fazit

Die Möglichkeiten der Lebensgemeinschaften sind vielfältig. Mal wird der Aspekt der Liebe stärker betont, mal die sozioökonomischen Vorteile. Doch über all dem schwingt die Moral, die mal stärker christlich, mal bürgerlich oder mal romantisch geprägt ist. Die Konzeption der Ehe ist auch ein Spiegel der Gesellschaft in der wir uns befinden. Aus Unwissen, Vorurteilen und Ängsten heraus werden Scheinehen angeprangert, Polygamie verurteilt und „Homoehen“ abgelehnt. Die Politik ist hier gefragt, denn gesellschaftlicher Wandel hin zu einer pluralistischen Gesellschaft, geht nur einher mit den rechtlichen Rahmenbedingungen und einem Abbau von Hürden und Verboten.

 

[1] Zur Frage, ob „Liebe“ ein geeigneter wissenschaftlicher Begriff ist, siehe Stengel (2008:1711-1713) und Corsten (1993:12).

 

Quellen:

Corsten, Michael (1993): Das Ich und die Liebe. Subjektivität, Intimität, Vergesellschaftung, Opladen.

Schenk, Herrad (1987): Freie Liebe, wilde Ehe. Über die allmähliche Auflösung der Ehe durch die Liebe. München.

Statistisches Bundesamt [Hrsg.] (2007): Ehescheidungen 2005. <http://www.bpb.de/files/3PNI7I.pdf, 21.07.2011>

Stengel, Stephan: Liebe und Partnerwahl in der Moderne. Zwischen Natur und Sozialität In: Karl-Siegbert Rehberg [Hrsg.] (2008): Die Natur der Gesellschaft. Verhandlungen des 33. Kongresses der Deutschen
Gesellschaft für Soziologie in Kassel 2006. Teilbd. 1 u. 2, Frankfurt am Main. <http://www.ssoar.info/ssoar/files/dgs/33-2006/1706.pdf, 20.07.2011>

Weichselbraun, Michael: Die Liebesehe – Von den Anfängen ihres Ideals zur Wirklichkeit in unserer Gegenwart. In: la:sf Lehranstalt für systemische Familientherapie [Hrsg.] (2006): Systemische Notizen. Heft 04. <http://www.la-sf.at/la-sf/upload/pdf/2006-04-03_Weichselbraun.pdf, 20.07.2011>